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Kultur: Hände aus Glas

Das Piano ist im Jazz ein eigenes Königreich.Wer es beherrschen will, muß das Ganze umfassen und die Autorität des Instruments annehmen können.

Das Piano ist im Jazz ein eigenes Königreich.Wer es beherrschen will, muß das Ganze umfassen und die Autorität des Instruments annehmen können.Andernfalls wird das Spiel zur Tyrannei.Es hat eine ganze Reihe von Königen, Fürsten und auch Narren gegeben, die der ausufernden Klangfülle des Pianos gerecht zu werden versuchten.Manche von ihnen mußten elektronische Revolutionen abwehren oder aristokratischen Vergreisungen entgegenarbeiten.Michel Petrucciani, der kleinwüchsige Franzose mit dem italienischen Namen und der amerikanischen Vorliebe für die gleitenden Rhythmen des Swing, war ein solcher.Ein König.Unermüdlich hat er sich an einem Instrument, das, gemessen an seiner eigenen Körpergröße, geradezu gigantische Ausmaße anzunehmen schien, gegen die stilistischen Erstarrungen des Modern Jazz gewandt und ihn vorangetrieben.Ein Ausdruck wie: "Er wirft sich in die Tasten" konnte kaum irgendwo anders angemessener klingen.Denn Petruccianis gekrümmter Körper, der wie ein Kind auf dem Hocker saß, ohne den Boden berühren zu können, warf sich mit einer ungeheuren Energie hinein, so als müsse er das schwarze Ungetüm jeden Abend von neuem besiegen.Und so als könnte es ihn zerschmettern.

Petrucciani war von Geburt an schwer körperbehindert.Er litt an der sogenannten "Glasknochenkrankheit", einer Erbkrankheit, die den Knochenaufbau beeinträchtigt und fortgesetzt zu Brüchen führt.Sein Körper trug zahlreiche Spuren dieses Leidens.Doch aufhalten konnte es seinen musikalischen Ehrgeiz nicht.So soll der im südfranzösischen Orange geborene Petrucciani bereits mit vier Jahren den Wunsch geäußert haben, wie Duke Ellington am Piano sitzen zu können.Mit neun spielte er, statt wie andere Kinder auf der Straße, in der Familienband, zunächst sogar am Schlagzeug, und genoß schließlich eine klassische Musikausbildung.Doch seine Liebe galt den Improvisationsspielräumen des Jazz.Mit sechzehn Jahren veröffentlichte er seine erste eigene Platte "Flash" und ging zwei Jahre später in die Vereinigten Staaten, wo er anfing, mit dem Saxophonisten James Lloyd zusammenzuarbeiten.

Sein Gespür für pointierte melodische Spannungsbögen, die er zu kraftvollen Klangbildern zusammenfaßte, machten ihn in den USA sofort bekannt, so daß ihm als erstem Europäer überhaupt ein Plattenvertrag bei dem renommierten "Blue Note"-Label angeboten wurde."Blue Note" versuchte, nach ziemlich fruchtlosen Jahren elektronischer Blues- und Funk-Experimente, seinen legendären Ruf als Kaderschmiede des Jazz zurückzugewinnen.Die innovativen Künstler, wie Chick Corea oder Keith Jarrett, waren zu anderen Labels abgewandert und der Thron des verstorbenen Bill Evans verwaist."Petruche", wie er von Freunden gerufen wurde, erspielte sich schnell eine Spitzenposition - sowohl in der Szene wie in den Charts.Von einigen seiner Platten wurden mehr als einhunderttausend Stück verkauft.Sein fein nuancierter Jazz-Klassizismus entsprach der von Wynton Marsalis eingeleiteten Rückkehr zu einem eher strukturkonservativen Jazz-Verständnis, das zu einer ausgewogenen Balance von thematischer Festlegung und freier Improvisation zu gelangen versuchte.So zählte der virtuose Pianist seine Solokonzerte zu den Sternstunden seines Schaffens, da sie ihn "der Gefahr" aussetzen würden, steril zu werden.Petrucciani verglich sein Vorgehen gerne mit der Arbeit eines Malers, da er Töne wie Farben benutzen und aus einer Komposition ein Gemälde entstehen lassen wollte.In Deutschland wurde Petrucciani vor allem durch seine Fernsehauftritte bei Roger Willemsen bekannt.Eine zweifelhafte Berühmtheit, die sein ausdrucksstarkes Spiel auf eine Pausennummer verkürzte.

Petrucciani starb am Mittwoch in einem New Yorker Krankenhaus an einer überraschend aufgetretenen Lungenentzündung.Sein Lebenswerk, in der französischen Provinz eine internationale Jazz-Schule zu gründen, blieb unvollendet.So hat ihn am Ende sein brüchiger Körper doch besiegt.

KAI MÜLLER

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