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Hans Magnus Enzensberger mit Brandenburgs Kulturministerin Johanna Wanka, 2005.

© Foto Manfred Thomas

Hans Magnus Enzensberger ist tot: Meister des Salto vorwärts

Hans Magnus Enzensberger war ein brillanter Kopf. Jetzt ist der dichtender Denker, Essayist, Übersetzer und Herausgeber mit 93 Jahren gestorben.

Er war einer der hellsten Köpfe im Halbdunkel der deutschen Nachkriegszeit, im Zwielicht vieler kulturpolitischer Debatten, im scharfen Glanz der internationalen Literatur- und Medienszene. Das Wort Zwielicht mochte Hans Magnus Enzensberger, der die englische Variante twilight noch eleganter fand, denn er wusste, dass Licht und Schatten Geschwister sind.

Mit 33 Jahren erhielt er 1963 den Georg-Büchner-Preis, da war der Magnus, wie ihn seine Freundinnen und Freunde wohl nicht ganz ohne Doppelsinn nannten, bereits ein Star: wie sonst zu jener Zeit fast nur Ingeborg Bachmann, mit der ihn nicht nur das frühe poetische Talent und die Fähigkeit zum sonderbar faszinierenden Auftritt verband. Beide waren diskret auch eine kurze Weile lang ein Liebespaar – wie das einige eifersüchtige Bemerkungen von Max Frisch in dessen jüngst veröffentlichtem Briefwechsel mit der Bachmann enthüllt haben.

Der junge Enzensberger war ebenso scharfsinnig wie spitzzüngig

Hans Magnus Enzensberger, der an diesem Donnerstag in München kurz nach seinem 93. Geburtstag gestorben ist, hat bis eben noch mit dem gleichaltrigen Philosophen Jürgen Habermas und dem nur drei Jahre jüngeren Alexander Kluge das Dioskurentrio der deutschen Dichter und Denker gebildet. Und Habermas und Enzensberger hatten beide vor genau sechzig Jahren ihren ersten ganz großen publizistischen Aufschlag. Habermas mit seinem soziologischen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und Enzensberger mit seinem Essayband „Einzelheiten“ beleuchteten 1962 fast gleichzeitig die „Bewusstseinsindustrie“: ein Begriff aus der Frankfurter Schule der Remigranten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Hier schrieben plötzlich deren beste Schüler und setzten geistige Wegmarken.

Während Habermas noch vergleichsweise trocken-akademisch den Wandel eines Teils der Presse hin zur kommerzialisierten Massenunterhaltung analysierte, ätzte der junge Enzensberger so scharfsinnig wie spitzzüngig gegen die Sprache des „Spiegels“ oder den „Journalismus als Eiertanz“ der damals altkonservativen „FAZ“. Dass Enzensberger später in beiden Medien durchaus gerne auftrat, im „Spiegel“ sogar regelmäßig, spielte keine Rolle. Oder besser gesagt: HME spielte dabei nur seine Rolle. Zu ihr gehörte auch der intellektuelle Salto vorwärts (nie rückwärts). Er war ein quecksilbriger Kopf, ein Gedankenflieger, Formulierungstänzer.

Soll der Geier Vergissmeinnicht fressen?

Hans Magnus Enzensberger

Aber zuerst ein Poet. 1957 erscheint Enzensbergers lyrisches Debüt „verteidigung der wölfe“. In dem schmalen Bändchen des Suhrkamp Verlags fragt er in damals modischer Kleinschrift die Leser und Lämmer, die Lammfrommen: „soll der geier vergissmeinicht fressen? / was verlangt ihr vom schakal, / daß er sich häute, vom wolf?“

In dem noch frechen jungbrechtschen Ton klingt bereits die Ironie an, zu der sich, älterwerdend, eine feine, nie ins Wehleidige abdriftende Melancholie gesellt. Dabei ist er von Anfang an ein dichtender Denker. Mit einem phänomenalen Sinn für Themen und Formen des Zeitgeists und die Mythen des Alltags. So gehörte zu seinen essayistischen „Einzelheiten“ auch eine Rezension des Neckermann-Katalogs, in dem er die wirtschaftswunderlichen Wünsche und Träume gespiegelt sah und den Band als das damals neue Volksbuch der Deutschen begriff.

Berühmt wird ein Vierteljahrhundert nach den „Einzelheiten“ auch Enzensbergers Mischung aus Essays und Erzählungen in dem Band „Ach Europa!“. Bei dieser Gedankenreise durch den alten Kontinent sieht er schon den Fall der Berliner Mauer voraus und setzt kokett einen „Epilog aus dem Jahre 2006“ hinzu. Wieder ein Salto vorwärts.

Geboren im Allgäu, aufgewachsen in Nürnberg, was man ihm, der über ein halbes Dutzend Sprachen las und sprach, immer angehört hat, jobbte er noch als Teenager bei der Royal Airforce als Barkeeper. Auf dem Schwarzmarkt lernte er zugleich nicht nur Lucky Strikes, sondern den Handel mit dem Überlebenswichtigen. Als einer der ersten deutschen Stipendiaten hat Enzensberger <NO1>dann<NO>an der Pariser Sorbonne studiert und wurde in Erlangen über Brentanos romantische Poetik promoviert - weil ihm eine Dissertation über Hitlers Rhetorik in den 1950er Jahren noch untersagt wurde.

Allein diese Alternative zwischen dem Schönen und Schrecklichen weist auf Enzensbergers enorme Spannweite hin. Er hat neben Gedichten in allen Genres gearbeitet, war Hörfunkredakteur bei Alfred Andersch im legendär anspruchsvollen Nachtprogramm des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart und Lektor bei Suhrkamp in Frankfurt, gehörte zur Gruppe 47, hatte eine norwegische, eine russische und zuletzt seine deutsche Ehefrau; er nomadisierte durch die USA, Kuba, Mexiko, die Sowjetunion, lebte in Skandinavien und Italien. War immer ein Weltbürger.

Er war ein Bücher- und Themenfischer

HME gab ab 1965 in seiner radikaleren, später eher camouflierten Phase die für die studentenrevolutionäre Neue Linke zum Kompass gewordene Zeitschrift „Kursbuch“ heraus, später mit seinem Freund Gaston Salvatore das tolle Magazin „Transatlantik“. Auch gründete er mit dem Drucker und Verleger Franz Greno die fabelhafte „Andere Bibliothek“, die bis heute noch in Berlin als ein Stück besonderer Buchkultur gedeiht.

Enzensberger war als fabelhaft belesener Bücher- und Themenfischer, als Übersetzer und Herausgeber die Inkarnation des Satzes, dass der Kopf rund sei, damit er in alle Richtungen denken könne. Noch vor dem Büchner-Preis hatte er sich eigentlich einen Nobelpreis für literarische Entdeckungen und Editionen verdient, als er 1960 als Taschenbuch bei dtv das mit vielen eigenen Übersetzungen bestückte „Museum der modernen Poesie“ präsentierte. Eine Anthologie von 351 Gedichten aus allen Kontinenten, die Pionierleistung eines universellen Geistes. Man sollte das Buch nicht nur ihm zu Ehren jetzt wieder auflegen.

Natürlich war er selbst ein großer Lyriker. Er wäre auch gerne ein ebenso großer Dramatiker und Romancier gewesen, das ist ihm nicht gelungen. Doch das durchaus dramatische dichterische versepos vom „Untergang der Titannic“, seine wunderbar poetische „Geschichte der Wolken“ oder der Gedichtband „Zukunftsmusik“ bleiben. Für immer. Auch wenn es in der „Zukunftsmusik“ am Ende des vorigen Jahrhunderts heißt: „Schon zählt des 21. Jahrhundert nicht mehr / Schon wird es dir schwarz vor den Augen…“

Dieser schlanke, erst blonde, dann silberhaarige Mann war als intellektueller Flaneur ein realistischer Fantast und fantastischer Realist. Träumer und Wirklichkeitsdetektiv, buchstäblich ein Aufklärer. Nicht zufällig waren Voltaire, Diderot und der Kosmologe Alexander von Humboldt für ihn Vorbilder. Bis fast zum Ende hatte er etwas von einem nur gealterten Jüngling. Dazu passt auch sein Weltbestseller, sein Vademecum für Kinder und alle Erwachsene, die sonst lebenslang albträumen, nochmal das Mathe-Abitur erleben zu müssen: „Der Zahlenteufel“, Untertitel „Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor Mathematik haben“.

Enzensberger nämlich konnte rechnen. Konnte höhere Gleichungen. Das zählt auf Dauer mehr als ein paar (eingestandene) Irrtümer über die Weltrevolution, über den vermeintlichen „Tod der Literatur“ oder einst im „Spiegel“ der legendäre Fehlvergleich zwischen Saddam Hussein und Adolf Hitler. Es zählen, statt falscher Antworten, die richtigen Fragen. Hans Magnus Enzensberger hat sie gestellt.

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