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Schon in der Schule erfuhr der Protagonist von "Harmony Lessons" Gewalt.

© Berlinale

"Harmony Lessons": Der Mensch ist des Menschen Lamm

„Harmony Lessons“ ist der erste kasachische Film im Wettbewerb. Er beschreibt Gewalt als eine Strategie zum Überleben. Und bricht mit ungeschriebenen Tabus des Filmbusiness.

Es beginnt mit einem Schock. Ein Junge läuft im verschneiten Hof neben seinem schäbigen Haus einem Schaf hinterher. Verzweifelt springt es an der Hauswand hoch, dreht sich um und verschwindet aus dem Bild. Nach wenigen Sekunden kehrt der Junge in den Bildausschnitt zurück, das Schaf schleift er an einem Bein hinter sich her. Gekonnt fesselt er die Hufe, legt den Kopf des Schafes in seinen Schoß und schneidet ihm die Kehle durch. Die Großmutter des Jungen ist neben ihn getreten. „Du hast vergessen, ‚Bismillah’ zu sagen“, sagt sie, während das Schaf ausblutet. Dann nehmen sie die Gedärme heraus.

Auch wenn in „Harmony Lessons“, ganz am Ende, ein digitaler Spezialeffekt für ein kleines Wunder sorgt, ist sich der Zuschauer bei dieser ersten Szene doch recht sicher, dass wirklich geschieht, was da zu sehen ist: Ein Jugendlicher von vielleicht 14 Jahren fängt und schächtet ein Schaf. Im ländlichen Kasachstan ist das wohl nichts Besonderes, im Kino aber ein genau kalkulierter Schock. Wozu wird diese Figur, dieser Schauspieler, dieser Film noch alles fähig sein?

Mit dem vor laufender Kamera vom Hauptdarsteller vermeintlich geschlachteten Tier verstößt Regisseur Emir Baigazin gegen ein Kino-Tabu. Noch vor wenigen Tagen versicherte Thomas Arslan, den zu Tode erschöpften Pferden in „Gold“ sei nichts Böses zugestoßen. Doch solange das Töten von Tieren zum Nahrungsverzehr weltweit selbstverständliche Praxis ist, wieso sollte man es nicht im Film zeigen dürfen? Keine Sorge, beruhigt der erst 29-jährige Autor und Filmemacher sein Publikum auf der Pressekonferenz. Die Szene ist fingiert, der Kameramann Vegetarier. „Mit dem Film möchte ich mir selbst, aber auch den Menschen insgesamt Fragen stellen“, sagt er in Berlin. „Gewalt ist ein untrennbarer Bestandteil unserer Existenz.“

Diese Gewalt, im Titel lakonisch zur „Harmonie“ euphemisiert, manifestiert sich in zunächst eher beiläufig, dann immer drastischer zu Tage tretenden Machtstrukturen, in denen sie von oben nach unten weitergegeben wird. Schauplatz für die meisten „Lektionen“ dieses Films ist die Schule, die der Junge Aslan Timur Aidarbekov) besucht. Ein Mikrokosmos der Gesellschaft: Ältere Schüler üben Druck auf jüngere aus, damit diese noch jüngeren Geld und Wertsachen abnehmen. Die mafiösen Strukturen werden durch gelegentlich aufbegehrende Opfer und hin und wieder statuierte Exempel nur weiter gefestigt. Wer am Ende der Kräftekette steht, muss sich seine eigenen Opfer suchen. Bei Aslan sind es kleine Echsen und Kakerlaken, mit denen er physikalische Versuche veranstaltet. Und als er nach sorgsamer Vorbereitung dann doch einen Racheakt verübt, gerät er an den nächsten gut durchorganisierten Unterdrückungsapparat: die Polizei.

Mit „Harmony Lessons“, dem ersten kasachischen Film im Berlinale-Wettbewerb überhaupt, legt Baigazin ein erstaunliches Debüt vor. Die präzise komponierten Bilder des Kameramanns Aziz Zhambakiyev verleihen der Handlung die Neutralität einer Versuchsanordnung, gleichzeitig strahlen sie eine poetische, beinahe meditative Ruhe aus. So grausam vieles ist, was hier geschieht, enthält sich der Film doch einer wertenden Botschaft und zeigt die Gewalt nicht als Sadismus verirrter Individuen, sondern als eine Realität des Überlebens. Das arme Schaf vom Anfang ist nur ihr erstes Opfer. „Können Menschen ohne Fleisch leben?“, fragt Aslan einmal seine Großmutter. Sie seufzt. „Vielleicht im Himmel.“ David Assmann

15.2., 9.30 Uhr (Friedrichstadt-Palast),

15.2., 9.30 Uhr (Haus der Berliner Festspiele), 15.2., 22.30 Uhr (International),

17.2., 14 Uhr (Haus der Berliner Festspiele)

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