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Kultur: Heilmittel gegen den Fieberwahn

Der amerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crary entdeckt im Begriff der „Aufmerksamkeit“ die heimliche Leitvokabel der künstlerischen Moderne

Rainer Maria Rilke sah in dem Bildhauer Auguste Rodin noch einen großen „Geduldigen, der seine Zeit nicht zählt und nicht daran denkt, das Nächste zu wollen.“ Doch Ende des 19. Jahrhunderts, so erklärt der amerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crary in seinem Buch über „Aufmerksamkeit“, hat sich die künstlerische Weltwahrnehmung eigentlich schon verschoben. Crary, Professor an der Columbia University und vor einigen Jahren mit der Studie „Techniken des Betrachters“ hervorgetreten, untersucht nicht in erster Linie den naturwissenschaftlichen Gehalt des Begriffs, er macht darin eine heimliche kulturelle Leitvokabel der Zeit aus. Und er entdeckt: Aufmerksamkeit als bewegliches und zugleich auf den Punkt fixiertes Bewusstsein führt immer die Zerstreuung mit sich.

Verbunden mit der automatisierten Blickführung an Fließbändern, beim Kaiserpanorama oder im Kino beanspruchte Aufmerksamkeit einen besonderen Stellenwert. Durch die Technisierung des Alltags, so Crary, entstand eine grundlegende Zäsur im Wahrnehmungshaushalt der Menschen – die Notwendigkeit, aus einer unüberschaubaren Auswahl von Reizen eine fokussierte Auswahl zu treffen. Aufmerksamkeit war das Mittel gegen den „Fieberwahn“ der Modernisierungsprozesse. Und das hatte unmittelbare Konsequenzen für die künstlerische Darstellung der Wirklichkeit.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist die Malerei mit einem Mal umstellt von einem Arsenal an Illusionsmaschinen. Ob halb vergessene Geräte wie das Praxinoskop, das Phenakistoskop oder das Stereoskop - immer häufiger werden aus Bildern Bildautomaten. In der Malerei von Edouard Manet, Georges Seurat und Paul Cézanne wird diese Krise der Sichtbarkeit zum Thema.

Manets Bild „Im Wintergarten“ (1879) zeigt ein Paar, das sich auf hypnotische Weise nah ist, doch zugleich wie durch eine unsichtbare Wand voneinander getrennt ist. Auf rätselhafte Weise gebannt, aber ohne fokussierende Aufmerksamkeit starren sie in das Nichts und rebellieren damit, wie Crary meint, gegen die Industrialisierung des Sehens. In Anlehnung an einen Gedanken Nietzsches analysiert er diesen Gestus als dekadent, während sich der Fotograf Eadweard Muybridges mit seiner Fotoreihe „The Horse in Motion“ der industriellen Mechanik des Sehens unterwirft.

„Parade de cirque“ (1887-88), ein Gemälde des Neoimpressionisten Georges Seurat fasziniert Crary, weil sich hier nicht nur in die Figuren, sondern in das Gemälde selbst die Krise der Wahrnehmung eingeschlichen hat. Das Gemälde führt nichts Figürliches vor Augen, es räsoniert über die Krise der Aufmerksamkeit im Zeitalter der anbrechenden Massenkultur.

Bayreuther Illuminationen

Von Emile Durkheims Soziologie über Friedrich Nietzsches „Geburt der Tragödie“ kommt er schließlich bei den optischen Erfindungen des Bewegungsillusionisten Emile Reynaud an. Was Crarys Flanieren entlang des Boulevards der zeitgenössischen Theorie trotz aller mitunter langatmigen Passagen spannend macht, sind die unerwartet aufblitzenden Einsichten. Dass Seurat in Richard Wagners Bayreuther Festspielhaus eine faszinierende, aber letztlich verlogene Illumination der entzauberten modernen Welt entdeckte, ist Crary zufolge für die hölzerne und mechanische Handschrift des Malers verantwortlich. Seurats Gemälde selbst lässt den Betrachter nicht in den Bildraum hinein.

Die angedeutete Welt entschwindet vor einem punktierten Schleier aus Ungefährem. Immer wieder zieht Crary Zeitzeugen der Krisen-Maler heran, beschäftigt sich mit philosophischen Konzepten, springt vom hohen Ton des theoretischen Diskurses in die Ateliers der Fotografen und die Vorzimmer der Neurologen. Vor allem aber ringen Crarys Erkundungen um die Erkenntnis, dass kein Künstler aus seinen persönlichen Idiosynkrasien allein heraus operiert. Er ist stets den Wahrnehmungsverhältnissen seiner Zeit ausgesetzt ist. Und so definiert Crary den Bildenden Künstler als den eigentlichen Großdenker seiner Zeit.

In der Konfrontation von Cézannes Malerei und Edmund Husserls Phänomenologie sowie Henri Bergsons Lebensphilosophie und Paul Valérys Essayismus funktioniert Crarys akademischer Assoziationsstrom am überzeugendsten. Gerade Bergsons Wahrnehmungstheorie opponierte gegen ein routiniertes, rein handlungssteuerndes Sehen. Paul Cézanne dagegen träumte am Ende seines Lebens davon, nur noch ein der Natur ausgelieferter Registrierapparat zu sein. Noch konsequenter als Manet oder Seurat ist Cézannes Werk deshalb eine Manifestation der Wahrnehmungskrise des späten 19. Jahrhunderts.

Das Kino feierte bereits seine ersten Erfolge, als Cézanne von einer Aufmerksamkeit träumte, die weder der Zentralperspektive der Vergangenheit noch dem maschinellen Realismus der elektronischen Medien anheim fällt. In Cézannes „Kiefern und Felsen“ (circa 1900), einem Gemälde, in dem sich die Transformation des Gegenständlichen in einen Licht- und Farbentaumel vollzieht, entdeckt Crary eine nur noch in Fragmenten rekonstruierbare Welt.

Eine mögliche, aber auch gewaltsame Deutung, weil Crarys theoretischer Aufwand angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl der Kunsthistoriker Cézannes koloristisches Spätwerk mit dessen zunehmender Sehschwäche in Verbindung bringt, seine eigenen Bizarrerie hat.

Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, 512 Seiten mit Abbildungen, 39,90 €.

Eike Wenzel

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