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Kultur: Heimspiel nach 22 Jahren

Als die Sowjets in Afghanistan einfielen, setzten sich die Nationalspieler nach Deutschland ab. Jetzt kickten sie wieder in Kabul, aber die Heimat ist fremd geworden

Von Nicol Ljubic

Das Haus, in dem er aufwuchs, stand im Westen Kabuls: zwölf Zimmer mit Garten, in dem Birnen wuchsen, Granatäpfel und Trauben. Ein wunderbarer Blick auf den wenige Kilometer entfernten Berg Kuhe Sakhi, auf dessen Gipfel nicht selten Schnee lag. „Es war ein schönes Leben“, sagt Ali Askar Lali. Wenn er über seine Kindheit spricht, dann bekommt die Welt, die er beschreibt, einen Glanz, der sich mit der Gegenwart Kabuls, mit Zerstörung und bettelnden Menschen, scheinbar gar nicht verträgt. Er erzählt von Pferden, auf denen er ausgeritten ist. Von warmen Sommerabenden, an denen er mit Freunden durch die vielen Parks spazierte. Von Rasenplätzen, auf denen er Fußball spielte, morgens vor der Schule, fast noch im Dunkeln. Wie stolz war sein Vater, als sie Jahre später zusammen in der Küche saßen und aus dem Radio erfuhren, dass Ali in die Nationalmannschaft berufen worden war! 25 Spiele hat er für Afghanistan gemacht; er ist viel gereist, jeder in Kabul, so sagt er, habe ihn gekannt – und dabei tat er nur das, was ihm am meisten Spaß machte: Fußball spielen. „Die Mannschaft aus der Daud-Zeit“, so wird sie heute genannt, Daud, der Präsident, der 1973 die Monarchie stürzte und 1978 selbst Opfer eines Putsches wurde.

Die 70er Jahre in Kabul, diese Zeit hat Ali Askar Lali, 45, geprägt, sie ist Ursprung für seine Erinnerungen, die ihn bis heute nicht losgelassen haben, all die Bilder und Erzählungen, die er so gern beschreibt, als habe es nach dieser Zeit nichts Erinnernswertes mehr gegeben. Die Wirklichkeit allerdings hat sich von diesen Erinnerungen mit jedem der mehr als 20 Jahre, die Ali nicht mehr in Kabul war, entfernt; die Stadt wurde zertrümmert, während Ali in Paderborn lebte und sich nach dem Kabul seiner Jugend sehnte. Vielleicht war es die Entfernung, die 5000 Kilometer zwischen Kabul und Paderborn, die es leicht machte, an all den schönen Erinnerungen festzuhalten, sie möglicherweise zu verklären. Was aber würde geschehen, wenn er zurückkäme und inmitten dieser Trümmer stünde? Wie schwer muss es sein, den Ort zerstört zu sehen, der Mittelpunkt ist für alle Erinnerungen, aus denen ein Mensch seine Lebenskraft schöpft? Wie verändert sich die Identität, wenn das Bild, das man von sich hat, mit einem Ort verknüpft ist, den es nicht mehr gibt?

Rückkehr aus dem Exil

Ali Askar Lali weiß, was das bedeutet, er hat nach über 20 Jahren den Ort seiner Jugend besucht. Im Juli war er in Kabul, für drei Wochen, zusammen mit den anderen ehemaligen Nationalspielern, die Anfang der 80er Jahre aus Protest gegen die sowjetische Invasion nach Deutschland geflüchtet waren und die, wie Ali, seitdem in Paderborn leben. Nun kehrten sie als Mannschaft zurück, um in Kabul gegen eine Auswahl von UN-Soldaten zu spielen.

Ali sitzt am Wohnzimmertisch mit dem Rücken zum Fenster; ein Bretterzaun begrenzt den kleinen Garten, dahinter ragt eine große Lagerhalle empor. Die Wohnung liegt in einem Gewerbegebiet Paderborns und wirkt wie ein Provisorium: im Bad eine unverputzte rote Ziegelwand, eine Sauna hatte er bauen wollen, die Küche dunkel und fensterlos, vor der Haustür betonierte, eingezäunte Höfe. Er ist hierher gezogen, weil er Im- und Exporthandel betreiben wollte. Eine kleine Firma, die elektronische Geräte aus China importierte – dann kam der 11. September, der Umsatz brach ein, jetzt ist er arbeitslos.

„Es war ein schönes Gefühl“, sagt Ali, „wieder in einem afghanischen Flugzeug zu sitzen und die persische Ansage zu hören.“ Als er und seine Mitspieler in Dubai das Flugzeug nach Kabul bestiegen, hatten die Stewardessen sie längst erkannt, „die Mannschaft aus der Daud-Zeit“, und ihnen die Business-Class frei gehalten.

Am Flughafen warteten Hunderte von Menschen, Spieler von damals, aus der afghanischen Liga, die zum größten Teil aus Kabuler Mannschaften bestand, aber auch Menschen, die von der Ankunft aus dem Radio erfahren hatten. Es war ein bisschen so wie früher; in Kabul war Ali damals so etwas wie ein Star, und auch zwei Jahrzehnte später, sagt er, hätten ihn viele auf den Straßen erkannt – nicht die Jungen, aber die Alten. Dass er die Kriegsjahre im sicheren Deutschland gelebt hat, das habe ihm keiner zum Vorwurf gemacht, sagt Ali. Im Gegenteil. Jetzt, sagt er, bräuchten sie ihn, um das Land wieder aufzubauen.

Nach der Ankunft gab es ein großes Festmahl, und abends fuhr Ali zu einem Cousin, bei dem seine Mutter mittlerweile lebt. Sein Neffe rief: „Onkel Ali, Onkel Ali“, seine Mutter kam aus dem Nebenzimmer, mit Tränen in den Augen, umarmte ihn, zwölf Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Sich nur Briefe geschrieben und ab und zu telefoniert. Über was man nach so langer Zeit redet? „Über die Familie“, sagt Ali, „nur über die Familie, wie es jedem geht, was er macht.“ Ali durfte nicht über Nacht bleiben, er musste zurück ins Gästehaus. Die Gastgeber hatten Sorge, dass den „deutschen“ Gästen etwas passieren könnte; da war er wieder in Kabul, seiner Heimat, und wurde als deutscher Gast beherbergt, er, der in Deutschland so gern erzählte, dass er sich als Afghane fühle, obwohl er die längste Zeit seines Lebens in Deutschland verbracht hat. In seiner Heimat aber durfte er abends nicht allein auf die Straße, und das Haus, in dem die Spieler schliefen, wurde bewacht.

Ein Garten ohne Bäume

Am nächsten Tag nahm sich Ali ein Taxi und ließ sich durch die Stadt fahren. Die Zerstörungen machten ihn wütend, diese sinnlose Energie, die dafür all die Jahre aufgebracht wurde. Er ließ sich in den Westen Kabuls fahren, dorthin, wo die Parks lagen und das Haus, in dem er aufgewachsen war. Das Haus zerstört, die Fenster geborsten, Raketen hatten Löcher in Wände und Dach gesprengt, alle Kabel waren aus den Wänden gerissen, das Holz geklaut, kein einziger Baum mehr im Garten, nur Schutt. Drei fremde Familien lebten in dieser Ruine. Ali hat ihnen Zeit gelassen, um auszuziehen. Viele Nachbarn waren in den Wochen zuvor heimgekehrt. Und sie erinnerten sich an Ali und das Haus und bezeugten, dass er der Besitzer sei. Ein Nachbar, erzählt Ali, hatte Schwierigkeiten, weil die fremden Menschen sein Haus nicht verlassen wollten. Dann kam die Polizei, befragte die Nachbarn, holte Erkundigungen ein und kam zu dem Schluss, dass der Anspruch des Besitzers rechtmäßig sei. Die fremden Menschen mussten weg.

Ali Askar Lali beauftragte Handwerker, drei der zwölf Zimmer herzurichten, das Dach abzudecken, Fenster einzusetzen, damit seine Mutter und sein Bruder dort einziehen könnten. Er wollte auch auf den Berg Kuhe Sakhi, den er als Kind so gern angeschaut hatte, erfuhr aber, dass dort immer noch Mienen lagen.

Ali zeigt Fotos, in schlechter Qualität, weil er sie in Kabul hat entwickeln lassen; von der Stadt ist nichts zu sehen, keine Trümmer, keine Ruinen, nur die Spieler beim Essen, vor dem Spiel, mit Funktionären, Hände schüttelnd, lachend, und immer wieder Essen, gedeckte Tische, mit großen Schalen voller Reis, Cola-Flaschen. Die Fotos strahlen eine Heiterkeit aus, die ähnlich fremd wirkt wie Alis Erzählungen von früher. Als sei das Glück konserviert, als gäbe es keine Armut und keinen Schmerz. Vielleicht ist es Absicht. „Meine Kinder sollen die kaputte Stadt nicht sehen“, sagt Ali, und die Geschichten, die ihn quälen, hat er ihnen auch nicht erzählt. Die Geschichte, wie er eine Schule besuchte, von der nur noch die Wände standen, zwischen denen Kinder auf dem Boden saßen. Zu essen hatten sie trockenes Brot und Wasser in Plastikflaschen ohne Verschluss. „Da musste ich weinen“, sagt Ali. Auch als er die Plätze sah, auf denen er damals Fußball spielte; überdeckt mit Trümmern und Unkraut. Vielleicht das Schlimmste aber, was er nie für möglich gehalten hatte – die Menschen waren ihm fremd. Kabul, sagt er, sei früher eine große Familie gewesen, jeder war Vetter oder Cousin, auch wenn er es in Wirklichkeit nicht war. Als Kind sei man überall gut aufgehoben gewesen. Es sei vorgekommen, dass Fremde gesagt hätten: Du sollst nicht rauchen! Und als Kind hat man auf sie gehört. Diese Fürsorglichkeit hat Ali Askar Lali vermisst. Und man fragt sich: Was hat er erwartet in einer Stadt, in der die Menschen ums Überleben kämpfen und in der kaum noch Kabuler von damals leben?

In Afghanistan, sagt er, habe man eine andere Lebenseinstellung. Freundschaft sei wichtiger als Arbeit. Wenn ein Freund Hilfe brauche, gehe man eben nicht arbeiten, sondern helfe. Er hatte einen Termin beim Olympischen Komitee, kaum jemand sei dort gewesen, weil sie stattdessen gemeinsam das Haus eines Freundes renoviert hätten. Ali Askar Lali wird leise. Er sagt: „Ich würde zur Arbeit gehen, wenn mein Freund Hilfe braucht.“

Nie mehr wie früher

Vielleicht klingt so das Eingeständnis, dass es niemals werden kann wie früher, nicht nur, weil die Stadt sich verändert hat, auch weil er nicht derselbe Mensch geblieben ist. Dass die Erinnerung nichts ist als eine nostalgische Verklärung. Er sagt: „Das starke Gefühl, Afghane zu sein, hat sich gelegt.“

In den drei Wochen, in denen Ali Askar Lali in Kabul war, sagt er, habe er zum ersten Mal so etwas wie Heimweh nach Deutschland verspürt. Nach was genau, kann er nicht sagen, es war, als sei er aus der Heimat weg gewesen, er habe seine Gewohnheiten vermisst: auf der Couch zu liegen und Fernsehen zu schauen, mit Freunden in die Stadt zu gehen. Vielleicht zum ersten Mal musste er sich eingestehen, dass ihn die Jahre in Deutschland geprägt haben. Das Land, von dem er sagt: „Die Sehnsucht nach Afghanistan kommt auch daher, weil man in Deutschland immer Ausländer bleibt.“ So enthusiastisch die Spieler Anfang der 80er in Deutschland empfangen wurden – ein Fabrikant hatte sie nach Paderborn geholt, damit sie für seinen Verein TuS Schloss Neuhaus spielten, eine Uni-Professorin gab ihnen Sprachkurse, organisierte Wohnungen und Jobs – so schwer schien es, sich an die Normalität zu gewöhnen. Irgendwann waren Ali und die anderen Spieler Ausländer wie so viele andere, die sich aufgrund ihrer dunklen Haare oder ihrer Sprachprobleme fremd fühlten, und daran änderte auch nichts, dass Ali deutscher Staatsbürger wurde. Irgendwann spielten sie eben nicht mehr in ausverkauften Stadien, in denen sie vom Stadionsprecher als diejenigen angekündigt wurden, die die Sowjets boykottierten und von den Zuschauern mit Beifall empfangen wurden. Vielleicht war das „Skandalspiel“ ein erstes Zeichen. 1984, sie spielten gegen den FC Hövelriege, einer von ihnen bekam die rote Karte. Es kam zu einem Gerangel, Zuschauer liefen auf den Platz und riefen: „Ihr habt nichts zu fressen zu Hause, und jetzt spielt ihr hier Fußball.“

Ali hat sich seinem deutschen Umfeld nie ganz geöffnet, stets blieben er und die anderen afghanischen Spieler am liebsten unter sich. „Die Mannschaft“, sagt er, „war mein Halt.“ Er ist einer der wenigen Spieler, die eine deutsche Frau geheiratet haben. Im Jahr seiner Ankunft lernte er sie kennen, abends im Jugendzentrum, in dem er und die anderen Spieler die meisten Abende beim Billard verbrachten. Aber nicht er passte sich der deutschen Kultur an, sie war es, die sich umstellte: Sie lernte Persisch, sie konvertierte zum Islam, sie fing an, afghanische Gerichte zu kochen und sprach später mit den Kindern persisch. Ob ihm das wichtig war? „Wichtig nicht“, sagt er, „aber schön“.

Heimweh nach Deutschland

Ali Askar Lali hat vier Kinder. Zwei Töchter, zwei Söhne: Jasmin, Elaha, Mehdi und Sohael. Die Namen hat die afghanische Großmutter ausgesucht. Das sei, sagt er, der Wunsch seiner Frau gewesen. Einmal hatte die Familie versucht, die Großmutter für immer nach Paderborn zu holen, seit ihrer Flucht aus Kabul lebte sie in Pakistans Hauptstadt Islamabad. Die Großmutter kam – und wollte nicht bleiben. „Es hat ihr nicht gefallen“, sagt Jasmin, „die Sprache, das Umfeld, sie fühlte sich nicht wohl.“

Und dann, zum ersten Mal wieder in seiner Heimat, verspürte Ali Heimweh nach Deutschland, dem Land, in dem es seine Mutter nicht ausgehalten hatte? Ein wenig zumindest. Und es fällt schwer zu beurteilen, ob er es sich nicht in vollem Maße zugestehen mag oder ob es vielleicht verschiedene Grade von Heimweh gibt. Welches ist stärker? Wahrscheinlich das Heimweh nach Kabul, trotz aller Enttäuschungen, die er dort erlebt hat. Fast wirkt dieses Heimweh wie ein Basso Continuo, in der Musik nennt man so eine tiefe Stimme, die unter allem anderen liegt, auf der alles aufbaut.

Ali will zurück, er hat sich in Kabul bei einer Telekommunikationsfirma beworben. Er möchte dort arbeiten, zumindest für ein halbes Jahr, möchte beim Aufbau helfen, damit alles wieder so wird wie früher. Zumindest äußerlich. Damit er das Land auch endlich seinen Kindern zeigen kann. Vier, fünf Jahre, schätzt er, wird es dauern, bis Kabul so ist, wie er es ihnen immer geschildert hat. Die Kulisse für seine Erinnerungen. „Er hat uns so viel erzählt, uns immer wieder Fotos und Videos gezeigt“, sagt Jasmin. Ihr Bruder Mehdi sagt: „Afghanistan ist meine Heimat. Ich fühle mich dort mehr hingezogen. Ich liebe dieses Land.“ Er selbst ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, ohne jemals in Afghanistan gewesen zu sein. Wie er sich das Land vorstellt? „Eine schöne Landschaft“, sagt er, „Berge, viel Sand und Kinder, die draußen spielen.“ Ali sagt nichts. Vielleicht hat er Sorgen, dass alles doch nur ein Traum war, an den er sich mehr als 20 Jahre geklammert hat und jetzt seine Kinder. Vielleicht ist es die Sorge vor einer großen Enttäuschung. Vor einer Lebenslüge.

Auch das Spiel gegen die UN-Soldaten lief nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Es hatte im Stadion stattfinden sollen, aber dort, so hieß es, sei die Sicherheit nicht garantiert. So spielten sie auf dem Platz eines Militärgeländes vor zweihundert geladenen Gästen. Und verloren 0:1. Wie das passieren konnte? Einen Tag zuvor hatten sie einen Ausflug ins Pandschir-Tal gemacht und waren mit Durchfall wiedergekommen. Nach sechs Minuten mussten schon vier Spieler vom Platz, für sie wurden Afghanen eingewechselt, die nicht zur Mannschaft gehörten. Zehn Minuten vor Schluss vertändelte einer von ihnen den Ball, das führte zum Gegentor. „Wir hätten das Spiel gewonnen“, sagt Ali. Wenn, ja, wenn sie unter sich geblieben wären, die Spieler aus der Daud-Zeit.

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