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Kultur: Henri Rousseau: Sein eigener Traum

In der Kunsthalle Tübingen wird deutlich, wie fremd diese Malerei bei aller Vertrautheit immer noch ist. Was hier naiv, verspielt und pittoresk auftritt, bleibt auch auf den zweiten und dritten Blick widerständig: die Malerei des frühpensionierten Zollbeamten Henri Rousseau, der erst in den neunziger Jahren des 19.

In der Kunsthalle Tübingen wird deutlich, wie fremd diese Malerei bei aller Vertrautheit immer noch ist. Was hier naiv, verspielt und pittoresk auftritt, bleibt auch auf den zweiten und dritten Blick widerständig: die Malerei des frühpensionierten Zollbeamten Henri Rousseau, der erst in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, kaum zwei Jahrzehnte vor seinem Tod, vom Feierabend- und Sonntagsmaler zu einer der erstaunlichsten und bis heute sich entziehenden Erscheinung der frühen Moderne wurde. Es ist ein großer Unzeitgemäßer, den uns die von Götz Adriani zusammengetragene, rund ein Drittel des µuvres versammelnde Werkschau in Tübingen präsentiert.

25 Jahre umfasst die Schaffensperiode, die mit den erstaunlich großen und monumentalen Urwaldbildern im letzten Lebensjahrzehnt ihre Reife findet. Dass in der Ausstellung unvermeidliche Lücken klaffen, muss nicht weiter stören, werden doch immerhin sechs der Urwaldszenen im großen Saal der Kunsthalle zusammengeführt - und selten ist man derart überrascht von der erstaunlichen Differenz in Farbe und körperlicher Gegenwart, die sich zu den omnipräsenten Vierfarbdrucken auftut. Daneben zeigt man in Tübingen bewusst auch den hierzulande weniger bekannten Rousseau der in sich ruhenden Portraits, der Blumenbilder oder der noch kleinformatigeren Stadtveduten, die den naiven Urwaldmaler in einem anderen, neuerlich fremden Licht erscheinen lassen.

Rousseau stand außerhalb seiner Zeit. Eher zufällig fand er in die Kreise der jungen Wilden der Pariser Jahrhundertwende. Ein Avantgardist wider Willen, der etwa mit Picassos Proto-Kubismus, mit der Auflösung des Gegenständlichen, dem schrittweisen Sich-Lösen von Raum und Realismus nur wenig gemein hatte. Und trotzdem war es der Kubist, der ihm zu Ehren im Bateau Lavoir jenes immer wieder erwähnte Bankett ausrichtete. Eine wohl kaum ganz unironische Hommage, die der "Zöllner" mit einem wohl kalkulierten Schuss Größenwahn beantwortete: "Wir sind die beiden größten Maler der Epoche, du im ägyptischen Genre und ich im modernen Genre." Selten wird deutlicher, wie vielschichtig schillernd sich der Begriff der "Moderne" darstellt. Denn Rousseaus Moderne ist die eines plakativen, raumlosen Realismus, der dem überkommenen Begriff eine gänzlich neue, ambivalente Bedeutungsschicht zu geben vermag. Es ist dies die vorsichtige, intuitive Annäherung an jenen "Neuen Realismus" in der Malerei, wie ihn Kandinsky als Gegenposition zur eigenen Abstraktion entwarf.

Der Rousseau der frühen Stadtlandschaften aus der Pariser Banlieue ebenso wie jener der wesentlich ab 1904 entstehenden Urwaldlandschaften findet zu Bildern, die von einer singulären Weltsicht zeugen. Wo Künstlerkollegen ihr Heil in der Südsee suchten oder afrikanische Masken sammelten, ging Rousseau in den Botanischen Garten und durch die Pavillons der Pariser Weltausstellung von 1900. Der Geige spielende Autodidakt, der nie eine Akademie von innen gesehen hatte und zeitlebens seine Unfähigkeit zu zeichnen beklagte, träumte seinen eigenen Traum. Es entstehen regungslos eingefrorene Bilder, die in ihre Oberfläche, in das im wörtlichen Sinne organisch florale All-over der naiven Exotik, Szenen unerhörter Drastik einbetten. Unzählige Grünvaleurs, deren künstlicher Rapport durch bunte tropische Früchte und Blüten gebrochen wird und immer wieder nicht nur vom umgebenden Schwarz bedroht zu sein scheint. Da wird der Büffel vom Tiger zerfleischt, ein Eingeborener hinterrücks angefallen; die Antilope, in deren Rücken sich die Zähne des Löwen graben, verliert gerade noch eine Träne...

Phantasmagorische Traumbilder, die ihr Urbild wohl in "Der Krieg" finden: Ein Beinhaus in freier Landschaft, an dem sich die Raben laben und darüber eine kindliche, die Zähne bleckende Zwietracht stiftende Kriegsgöttin. Rousseau beschwört ein Paradies, bedroht von Schloten, Isolatoren und Zeppelinen; von den Insignien der Moderne in den Stadtlandschaften ebenso wie vom "ägyptischen Genre" der kubistischen Kollegen. Der Vergleich mit den jüngeren Zeitgenossen von Léger bis Beckmann macht bei allen stichhaltigen Korrespondenzen gerade auch die Singularität Rousseaus unmittelbar deutlich: Der Gang in die monumentale Fantastik, in das abgründig Reale ist nur dem Unzeitgemäßen, dem Verlachten und dem Wegbereiter wider Willen möglich.

Martin Engler

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