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Henrik Tikkanens Roman „Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35“: Die eklige Wirklichkeit ausgesperrt

Keine falschen Versprechungen: Der verstorbene Henrik Tikkanen ist mit einem der besten finnischen Romane auf der Frankfurter Buchmesse präsent: „Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35“.

Henrik Tikkanen macht keine falschen Versprechungen. Gleich mit dem ersten Satz seines Romans „Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35“ gesteht er: „Dies ist eine gruselige Geschichte über vorzeitigen Tod, Unheil, Unzucht und Schnaps. Sie handelt vom Unglück einer Familie und vom Kampf gegen das Unglück, der den Sinn und die Unmöglichkeit des Lebens darstellt.“

Will man so eine Geschichte, so einen Roman wirklich lesen? Einen Roman, der aus Finnland kommt, dem Land der Depressiven, Trinker und Selbstmörder, wie es ein gängiges Vorurteil will; aus der Feder eines Finnlandschweden zwar, der aber tatsächlich selbst schwer dem Alkohol zusprach und 1984 im Alter von nur 60 Jahren verstarb, allerdings an einer Leukämie? Doch, selbstverständlich, man sollte diesen Roman unbedingt lesen. Er ist einer der besten, die im Rahmen des finnischen Gastlandauftritts bei der Frankfurter Buchmesse ins Deutsche übertragen wurden.

Henrik Tikkanen und die eklige Wirklichkeit

Weil er so böse, so sarkastisch, so illusionslos ist – und weil Ton und Stil Tikkanens und seines Erzählers, von Karl-Ludwig Wetzig blendend übersetzt, sofort einnehmen, treffen, weiterlesen lassen, auch in Unkenntnis der finnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Denn diese spielt eine wesentliche Rolle für Tikkanens Abrechnung mit seiner Familie: mit seinem alkoholkranken Vater, seiner ebenfalls dem Alkohol zugeneigten Mutter, seinen drei hohlköpfigen Brüdern, von denen der klügste sich wegen traumatischer Kriegserlebnisse das Leben nahm. Und nicht zuletzt mit der reichen, saturierten schwedischen Minderheit im Allgemeinen, der Tikkanen entstammt, angesiedelt in Brändö, einem Vorort Helsinkis: „In echt finnlandschwedischen Geist hatte man sich in einer Festung verschanzt und die zunehmend eklig werdende Wirklichkeit ausgesperrt.“

Hass auf die eigenen Privilegien

Zu dieser Wirklichkeit zählte auch der Zweite Weltkrieg, an dem Tikkanen teilnahm. Nicht zuletzt diese Erfahrung ließ ihn seinen Hass auf den Krieg sowieso, aber eben auch auf die einstigen Priviligien der Finnlandschweden und der älteren Generation entwickeln. Denn gerade die Alten, weiß Tikkanen, wollen immer, „dass alles beim Alten bleibt, sie wollten ihr Weltbild bewahren, obwohl die Welt sich verändert hat.“

Henrik Tikkanen: Brändovägen 8 Brändö. Tel. 35. Roman. Aus dem Schwedischen von Karl-Ludwig Wetzig. Verbrecher Verlag, Berlin 2014. 152 Seiten, 22 €.

Juliane Oelsner

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