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Herta Müller: "Atemschaukel" - Roman aus dem Versunkenland

Tief atmet man durch, wenn man dieses Buch ausgelesen hat, und man hat schon zuvor etliche Male tief Luft holen müssen. "Atemschaukel" ist Herta Müllers großer, berührender Roman über ein sowjetisches Arbeitslager.

Was einem hier mit gleichmäßig wacher Stimme erzählt wird, das weiß man von der ersten Zeile an ohne jeden Zweifel, ist alles wahr, ist alles so gewesen, ob nun das Wort Roman auf dem Buch steht oder nicht. Man schämt sich zunächst, von all dem nichts gewusst zu haben, und ist zugleich mehr als heilfroh, dass man selbst so etwas nicht erleben musste, was sich zusammen ein wenig anfühlt, als habe man sich vor etwas gedrückt und geniere sich jetzt dafür.

„Atemschaukel“ ist ein Lager-Buch. Rumänien, dessen König unter dem Druck der Sowjets im August 1944 den faschistischen Diktator Jon Antonescu abgesetzt und dem bis dahin mit Rumänien verbündeten Deutschland den Krieg erklärt hatte, wurde Anfang 1945 von den Russen gezwungen, sämtliche rumänischen Deutschen zwischen 17 und 45 Jahren, Männer wie Frauen, zur Zwangsarbeit in ukrainischen Lagern auszuliefern. Es waren brutale Reparationsleistungen in Menschenform zum Wiederaufbau in der kriegszerstörten Ukraine. Diese politischen Hintergründe spielen in diesem Buch jedoch kaum eine Rolle, es gibt die Herren des Lagers, die Russen, und es gibt die Arbeitssklaven, zu denen der Erzähler dieses Buches gehört. Leo Auberg wird er genannt, ein Siebzehnjähriger, der schon seit einer Weile davon träumt, seiner Lebensenge zu entkommen und Neues, Fremdes, Anderes zu erfahren, was ihm dann ja auch auf grässliche Weise ermöglicht wird.

Die Verhaftungen, die Viehwaggons, das Lager. Man weiß davon aus den anderen gewaltigen, gewaltbestimmten Lager-Büchern, denen sich dieses an die Seite stellt, von Imre Kertész oder Primo Levi etwa. Aber hier handelt es sich nicht um ein Vernichtungslager. Dies waren Arbeitslager, nicht so todesgewiss, so viele dort auch immer sterben mussten, es machte gleichsam auf sinnlose Art Sinn, um sein Leben zu zittern, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Jahr um Jahr. Und hat man dann noch, wie Leo, von der Großmutter den Satz mit auf den Weg bekommen „Ich weiß, du kommst wieder“, dann bleibt man all die Jahre – und bei Leo wurden es fünf Jahre – einer, der um sich das Töten und das Sterben sieht und doch die Gewissheit nicht aufgibt, dass er da wieder rauskommt.

Freundlicherweise wissen auch wir das von Anfang an, denn es ist Leo selbst, der die Geschichte erzählt. Es ist seine Geschichte, aber es ist auch die Geschichte all derer, die mit ihm dort waren und die nicht alle zurückkehren, ja es ist auch die Geschichte aller, die in vergleichbaren Höllen waren. Dort wird gegen jedes Individuelle das immer gleiche Schicksal verhängt, und das macht fast vergessen, dass das Elend, das Leiden selbst immer den Einzelnen trifft, diese Gewissheit bleibt. (Es gibt in diesem Buch keine Fragezeichen.) Und so hat Herta Müller dieses Buch auch geschrieben: als die Geschichte eines Einzelnen und die aller Geschundenen zugleich. Dafür steht ihr eine Sprache zur Verfügung, die außerordentlich ist, ein Ton von großer erzwungener Nüchternheit, als müsse immer wieder zwischen zwei Sätzen ein Schreien unterdrückt werden. Zugleich verfügt sie über eine poetische Erfindungskraft, die den Schrecken und das Schreckliche in Bilder fassen kann, die selbst dem Elend seine Würde lassen.

Denn furchtbarerweise ist es ja auch banal, wenn einer Hunger hat. Oder Angst. Oder friert. Oder sich anscheißt. Von der „Hautundknochenzeit“ ist da die Rede, vom „Hungerengel“, von der „Atemschaukel“, das sagt alles. „Der Unterleib war ausgefroren, die Beine schoben sich totkalt in die Därme.“ Oder: „Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß.“ Oder: „Das Zopfende hing heraus, als hätte sie von einem kleinen braunen Vogel schon die Hälfte abgebissen.“ Sätze wie diese, die einem das Herz zerreißen, kann nur Herta Müller, und diese Sätze sind schön, sie sind von einer atemberaubenden Schönheit. Dass eine so arme Geschichte, dass ein so armes Lebensstück mit so viel Schönheit erzählt wird, ohne jeden Schnörkel, ganz der Wahrhaftigkeit verpflichtet, das macht nicht zuletzt die Größe dieses Romans aus.

Einmal begegnet auch Leo dem Schönen, unversehens, als er auf einer seiner Betteltouren zu einer Frau kommt, die ihren Sohn vermisst, an den Leo sie erinnert: Sie stellt ihm eine gute Suppe hin, und als ihm dann das Wasser aus der Nase läuft, da schenkt sie ihm ein feines Taschentuch, so fein, dass er es nicht benutzen kann, nur sorgsam aufbewahren als ein Stück aus einer Welt, die ihm abhanden gekommen ist.

Dies ist ein ganz einfaches Buch. Nichts Vertracktes kommt hinein, kein Psychologisieren, auch nicht, wenn es von der schwachsinnigen Planton-Kati heißt: „An ihr können wir gutmachen, was wir einander antun.“ Kein Urteilen, das sich nicht von selbst ergäbe. Wenn etwas kompliziert ist, dann so: Stehlen ist stehlen, aber was ist dann stehlen aus Hunger? Wenn’s aber die eigene Frau ist, der man die Suppe weglöffelt? Der Kumpel, dem man das Brot klaut? Die Fragen sind einfach, ach, und die Antworten sind es letztlich auch. So wie das Leben, das Leo und die anderen dort leben, auf fatale Art auch einfach ist, und nicht anders wird uns davon berichtet: sachlich. Die Sachen sagen alles: der Zement, der Schnee, die kaputte Kuckucksuhr, die Hühner, „mager wie Wolkenfetzen“, die Kartoffeln, die Kartoffelschalen, das Träumen von Kartoffeln. Oder das Brot, das am Brotende gebackener ist als in der nassen Mitte, also auch leichter, also hat man mehr Brot, wenn einem das Eckstück abgewogen wird. Oder: „Speichel macht die Suppe länger.“

„Das Lager ist eine praktische Welt“, heißt es einmal, und wenn man die Leichen im Winter erst gefrieren lässt und dann zerhackt, muss man kein Grab schaufeln, da reicht ein Loch.

In einem kurzen Nachwort berichtet Herta Müller von dem Entstehen dieses Buches: Sie schrieb zunächst Gespräche mit Deportierten aus ihrem Dorf auf und tat sich dann mit Oskar Pastior zusammen, der deportiert worden war und ihr nun von seinen Erfahrungen aus der Lagerzeit erzählte. Aus diesen Gesprächen erwuchs die Idee, ein Buch gemeinsam zu schreiben, was, wenn man Pastiors so ganz und gar nicht erzählende Literatur kennt, nicht leicht vorstellbar ist. Dann starb Pastior 2006 überraschend, so dass Herta Müller sich nach einer langen Atempause entschloss, den Roman alleine zu schreiben. „Doch ohne Oskar Pastiors Details aus seinem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt.“

So ist dieses Buch Herta Müllers auch eine Hommage an Pastior geworden, dessen Wortfantasien sie den Leo Auberg überaus treffend so umschreiben lässt: „Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen. Sie sind ganz anders als ich und denken anders, als sie sind. Sie fallen mir ein, damit ich denke, es gibt erste Dinge, die das Zweite schon wollen, auch wenn ich das gar nicht will.“ Schöner und einfacher kann man es nicht sagen.

Herta Müller: Atemschaukel. Roman. Hanser Verlag, München 2009. 304 S., 19,90 €.

Jochen Jung

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