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Kultur: High Noon im Plänterwald

Im ehemaligen Spreepark in Treptow leben Menschen in einem Westerndorf. Nun ist ihr Idyll bedroht – durch einen Investor.

Die roten Riesenrad-Gondeln schweben reglos am Stahlgerüst, Karussells und Kassenhäuschen sind verlassen. Es ist still auf dem Berliner Spreepark-Gelände, südlich vom Treptower Park. Ein Mammut steht lebensgroß im wuchernden Buschwerk, ein Tyrannosaurus Rex fletscht die Zähne, ist aber auf die Seite gefallen und streckt die hohlen Plastikbeine in die Luft. Läuft man an den rostenden Schienen entlang in Richtung Norden, kommt man in das Westerndorf. „An AmericanWay of Life“ steht in geschwungener Schrift auf der amerikanischen Flagge über dem Tor. Dahinter liegt ein frisch gemähter Platz, umsäumt von hölzernen Blockhäusern: Es gibt einen Saloon, ein Sheriff-Office und eine Central Railway-Station. Auf dem Gleis parken zwei Autos. Ein kleiner Hund bellt, sobald sich ein Fremder nähert.

Er gehört Rolf Deichsel, der das Western-Village 1993 für 3,6 Millionen Mark erbaut hat. Es war seine Investition in die Zukunft des ehemaligen Prestigeobjektes der DDR-Regierung. 1997 schloss der Berliner Senat für das Gelände einen Erbpachtvertrag mit dem Hamburger Schausteller Norbert Witte, der 2001 Bankrott ging. Witte verpackte daraufhin die schönsten Fahrgeschäfte in Container und verschiffte sie nach Peru. Deichsel aber lebt auch drei Jahre nach der Schließung des Parks mit Frau, Töchtern und fünf weiteren Familien noch immer in dem Westerndorf. Er trotzt dem Verfall um ihn herum. Und er will ein Exempel statuieren. „Es geht mir nicht um Geld“, sagt er. Er kämpft auch für alle, die schon gehen mussten, weil sie sich den Widerstand nicht leisten konnten.

Das Leben im Westerndorf ist sehr idyllisch. Im Erdgeschoss sind alle Buden geschlossen. Dunkle Rollläden versperren die Sicht nach drinnen. Darüber haben die 23 Bewohner des Wilden Westens Wohnungen, die man getrost als luxuriös bezeichnen kann. Hinter der schmucklosen lila und hellblau gestrichenen Holzfassade verbergen sich Parkettböden und Marmorbäder. Vom Fenster aus guckt man in den Wald. Zur anderen Seite stehen die Westernhäuser so dicht, dass man von außerhalb nicht ins Dorf hineinsehen kann. Ein bisschen erinnert das alles an das unbesiegbare gallische Dorf im Asterix-Comic: Deichsels Western-Village, ein letzter Hort des Widerstands gegen eine komplette Räumung des Freizeitparks. Doch im Westerndorf steht kein Zaubertrankkessel auf dem Platz vor dem Saloon. Nur ein großer Grill und ein Sack mit Kohlen. Auf dem Tisch ein Aschenbecher. Deichsel ist ein starker Raucher. Die Brille hat sich der kräftige Mann in die Stirn geschoben. Lässig legt er einen Arm über die Lehne des Nachbarstuhls.

Er erzählt seine Geschichte und die des Freizeitparks. Eigentlich ist es eine Geschichte. Man kann sie nicht trennen. Hier ist sein Zuhause. Hier lebt er, seit er 14 Jahre alt ist. Mit der Pony-Bahn, die seinen Eltern gehörte, fing Deichsels Erfolgsgeschichte im Plänterwald an. Mit Norbert Witte endete sie. Der Chef der neuen Spreepark GmbH & Co. KG war schon, bevor er den Zuschlag für den Freizeitpark bekam, als Hallodri stadtbekannt: Schlapphut, Rolex, Vorstrafe und immer ein flotter Spruch auf den Lippen. Er richtete sich nach der Wende im Park ein Luxus-Appartement mit Flussblick ein, baute eine neue Gondel-Bahn und trieb ab 1997 den Spreepark in den Ruin. Als er sich vor drei Jahren vom Acker machte, hinterließ er dem Land Berlin 780000 Euro Schulden. Es hieß, Witte habe die Karussells in Lima wieder aufgebaut. 2003 tauchte er plötzlich in Deutschland auf. In dem Fliegenden Teppich, den er zur Reparatur aus Lima nach Hamburg verschifft hatte, fand man 181 Kilogramm Kokain. Seither sitzt er im Gefängnis.

Deichsel lacht. Es ist ein bitteres Lachen. Letzten Monat wurde im Westerndorf der Strom abgestellt. „Die wollen uns aushungern“, sagt Deichsel. Mit „die“ sind Liegenschaftsfonds und Insolvenzverwalter gemeint, die dafür gesorgt haben, dass die Trafostation, von der das Westerndorf bislang den Strom bekam, abgeschaltet wurde. Die Trafostation sei sanierungsbedürftig und ihre Wartung zu teuer, hieß es. Aus Sicht des Liegenschaftsfonds eine Aufgabe des künftigen Investors. Für Deichsel ist klar, was das bedeutet. „Wir sollen hier weg.“ Die Betreiber des Kopenhagener Freizeitparks Tivoli sind schon seit Jahren am Spreepark-Gelände interessiert. Das Land Berlin wiederum ist an einem Tivoli-Park an der Spree interessiert. Dem Verkauf scheint nichts mehr im Weg zu stehen. Bis auf zwei kleine Hindernisse: Erstens muss der Berliner Senat zustimmen. Das Tivoli-Projekt bedeutet große Einschnitte in den Landschaftsschutz in Berlins ältestem innerstädtischen Waldgebiet. Die PDS-Abgeordnete Jutta Matuschek fordert deshalb eine Renaturierung des Geländes. Zweitens muss das Westerndorf geräumt werden. Die Reibereien stören das Investitionsklima.

Doch Rolf Deichsel lässt sich nicht einschüchtern. Er stottert höchstens ein bisschen, wenn er aufgeregt ist. So wie jetzt: „Aber, und das können Sie ruhig reinschreiben: Ich heiße nicht Schreck.“ Er hat sich eine eigene Stromleitung ins Westerndorf legen lassen. Insolvenzverwalter Wolfgang Schröder hat schon Anfang dieses Jahres die Räumungsklage eingereicht. Deichsel blockiere die Tivoli-Verhandlungen und deshalb müsse er weg, sagt er knapp. Das Landgericht wird noch in diesem Jahr zu einem Urteil kommen, schätzt der Anwalt: „Und nicht zu Deichsels Gunsten.“ Der besitze weder einen Kaufvertrag noch einen gültigen Pachtvertrag.

Bärbel Deichsel bringt eine blaue Thermoskanne mit Kaffee über den Platz. Sie ist eine fröhliche Frau. Ihr strahlender Blick passt nicht zu den knappen Worten, mit denen sie beschreibt, was mit dem Spreepark passiert ist: „Hier war immer Trubel, Tag und Nacht.“ Sie guckt auf die kahle Stahlkonstruktion eines Karussells hinter den Häusern der Westernstadt – wie, um sich zu vergewissern, dass es wirklich nicht mehr so ist. „ Es ist traurig.“ Dann gießt sie den Kaffee ein. „Wir haben angefangen mit einer Ponybahn und einer Waffelbäckerei und hatten vor der Wiedervereinigung sechs Geschäfte.“ Familie Deichsel war hier am Ufer der Spree zu Hause. Der Kulturpark oder auch Kulti, wie er in der DDR genannt wurde, war in den 80er Jahren bei Familien und Punkern beliebt. Auf der Kulti-Bühne spielten Manfred Krug, die Puhdys und Karat. Drei Millionen Besucher kamen jedes Jahr.

In Deichsels Erinnerung gab es hier „nur lachende Kinder“. Was danach kam, hätte er sich im Traum nicht ausdenken können. Sein Redefluss wird von einem heftigen Husten unterbrochen. Wie sich die Stimmung verändert hat? „Das können Sie sich doch selber ausmalen: Wenn der Preis einer Bockwurst von 85 Pfennig auf fünf Mark hochspringt, und der Eintritt statt einer Mark plötzlich 28 Mark kostet.“ Kaputt sei es gewesen, das Herz vom Vergnügungspark. Deichsels Stimme ist tonlos, aber er bleibt gefasst. „Von den 56 Privat-Unternehmern, die im Plänterwald jedes Jahr eingemietet waren, sind unter Witte und seiner Spreepark GmbH zwei übrig geblieben.“

Norbert Witte wollte aus dem Rummel einen Themenpark machen. Nur wer es sich leisten konnte, blieb dabei. Denn Witte verlangte 300000 Mark von jedem, der mitmachen wollte. Wohin das Geld verschwand, weiß heute niemand. „Wir mussten zahlen, damit wir uns als Ostler am Aufbau Ost beteiligen durften.“ „Durften“ – wiederholt Deichsel und verzieht das Gesicht, wenn er daran denkt. Rolf Deichsel bezeichnet sich als Ost-Millionär. Die Schaustellereibetriebe waren nur ein kleiner Teil der Firma Deichsel. Der gelernte Maler und Fleischbeschauer hatte bereits mehrere Unternehmen im anhaltinischen Strassfurt geleitet. Als die Wende kam, expandierte die Firma weiter: Eine Tankstelle, ein Möbelhaus und ein Toyota-Autohaus kamen dazu. Seit drei Jahren stellt die Firma „Original Deichsländer Pferdewürstchen“ her. „Der Betrieb läuft mehr als gut“, sagt der Chef zufrieden, „wir exportieren jetzt auch schon ins Ausland.“ Die Firma beschäftigt 192 Mitarbeiter, für das nächste Jahr sind 150 neue Stellen geplant. „Damit haben die natürlich nicht gerechnet, dass ich mir so einen jahrelangen Widerstand leisten kann", sagt Deichsel. Er richtet sich auf und zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen Zug. „Ein anderer wäre längst zerbrochen.“

Auf 7000 Quadratmetern ein Stück Wilder Westen mitten in Berlin, mit Cowboys und Indianern und allem drum und dran. Im Westerndorf konnte man reiten, es gab einen Saloon, eine Spielhalle und Restaurants. In der Mitte des Platzes drehte sich das Karussell „Brummel“. Nachdem das Westerndorf zwei Jahre lang sehr gut gelaufen war, wollte Norbert Witte, damals noch Schausteller-Kollege, das Western-Village übernehmen. Oder besser: Er wollte die Einnahmen aus dem Wilden Westen für sich verbuchen. Deichsel willigte in das Geschäft ein: Das Westerndorf sollte mit 44 Monatsraten an Witte verkauft werden. „Auf der Hälfte der Vertragsstrecke hatte es Witte vorgezogen, nach Peru zu gehen und das Gewerbe zu wechseln“, rekonstruiert Deichsel seine Geschichte. Also ging das Westerndorf wieder an ihn zurück – so stand es ja auch im Vertrag.

Aber mit Wittes Abgang wurde auch der Park geschlossen. „Das heißt wiederum, dass die Hälfte unserer Investitionen noch offen steht.“ Deichsel blickt sich um. Auf dem Platz vom Westerndorf steht immer noch „Brummel“. Für Kinder bis zehn Jahre – steht auf dem Schild. Um die graue Rakete haben sich einmal Busse, Kutschen, Autos und Pferde gedreht.

„Es hätte anders kommen können.“ Auch Deichsel hat sich über die Zukunft des Parks Gedanken gemacht. Nachdem sich Norbert Witte abgesetzt hatte, um in Lima sein Glück noch mal neu zu versuchen, hat Rolf Deichsel ein Exposé erstellt. „Dieses Exposé hätte den Park gerettet“, glaubt er. Die Idee: 20 Unternehmer mit 20 neuen Fahrgeschäften und ein Eintrittsobulus von einem Euro. „Das wär’s gewesen.“ Der Vorschlag wurde abgelehnt, die Zeit des Spreeparks war schon damals vorbei. Witte trauert ihr nach. Er will retten, was zu retten ist, sagt der Insolvenzverwalter Schröder. Er kann das verstehen. Deichsel selbst argumentiert eher moralisch. Er benutzt Worte wie Fairness, Anstand und Ehrlichkeit. Aber es geht auch um Ost gegen West. Nur liegen die Dinge hier ein bisschen komplizierter als gewöhnlich. Hier kämpft kein verzweifelter Ostler gegen den westlichen Investor, der ihn übers Ohr gehauen hat. Hier verteidigt ein erfolgreicher Unternehmer den Platz, den er sich im vereinigten Deutschland ausgesucht und aufgebaut hat. Das Westerndorf war für Deichsel der Inbegriff vom guten Leben.

Die Wende an sich sei nicht schlecht gewesen, sagt er. Da legt er großen Wert drauf. „Aber so einen Lügenstaat habe ich mir nicht vorgestellt.“ Ein Lügenhaus sei wie ein Kartenhaus: Es stürze zusammen. Auf so etwas könne man doch kein Land aufbauen. Deichsel hatte es auch in der DDR schwer. Schließlich war er Eigentümer mehrerer Firmen, die unter anderem auch ins westdeutsche Ausland exportiert haben. Vier Mal war er eingesperrt. „In der DDR haben sie uns ganz wenig versprochen, aber das, was versprochen wurde, hat man auch gekriegt.“

Und da ist noch was, was oft falsch verstanden wird: Deichsel will sich nicht quer stellen. Er will nicht an seinem Westerndorf verdienen. „Das hab ich schon 100 Mal gesagt“, er wird energisch und das Stottern ist wieder stärker. „Aber wir lassen uns auch nicht entsorgen.“ Für ihn bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder er kauft das Grundstück, auf dem das Westerndorf steht und errichtet darauf eine Wohnanlage oder aber er bekommt eine Entschädigung. Er genieße so genannten Investitionsvorrangschutz. „Ich habe jetzt einen relativ kleinen Preis gefordert.“ Eine Summe will er nicht nennen. Sein Blick wird bestimmt, er richtet sich in seinem Stuhl auf und sagt kämpferisch: „Und wenn man das nicht akzeptieren will, klären wir das in Den Haag.“

„Hören Sie was?“, fragt Deichsel und sein Gesicht klärt sich wieder auf. Er lehnt sich zurück und verschränkt zufrieden die Arme. Nur das Zwitschern der Vögel ist laut. Das Leben hier im Westerndorf ist zwar skurril und ein bisschen gruselig, aber idyllisch. „Es ist die schönste Ecke von Berlin.“ Einige Familien hier kennen sich schon lange, andere haben einen ganz normalen Mietvertrag, wie in jeder anderen Wohnanlage auch, erklärt Deichsel. Morgens fahren sie zur Arbeit, im Sommer grillen sie oft zusammen. Eine von Deichsels Töchtern lebt mit ihrem Mann über dem Saloon. Die Deichsels halten zusammen. „Meine Familie stärkt mir den Rücken“, sagt Rolf Deichsel. Das war schon immer so. Aber Sorgen gibt es auch: Seine jüngste Tochter ist 23 und arbeitslos. „Für mich ist es jetzt das Wichtigste, dass meine Töchter ein gutes Leben haben. Dafür kämpfe ich.“

Und wie lange sie noch in ihren Wohnungen bleiben können, wollen Deichsels erst mal abwarten. „Das kriegen wir in den Griff“, sagt Bärbel Deichsel zuversichtlich. Deichsel nickt und lacht.

Zum ersten Mal klingt sein Lachen gelassen und nicht verbittert. Er zündet sich eine Zigarette an. Die gemalten Zeiger auf der Uhr von der Railway Station stehen auf fünf vor zwölf. Noch nie war dieser einfältige Gag so passend.

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