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Kultur: Hinaus, wo kein Loch ist

Die Marbacher Ausstellung zum 200. Geburtstag des Dichters Eduard Mörike

Er ist der schwäbische Nationalpoet par excellence, zumal er das Königreich Württemberg kaum je verlassen hat, und dieses Jahr ist er das ruhmreichste Geburtstagskind im Ländle. Eduard Mörike, am 8. September vor 200 Jahren in Ludwigsburg geboren, wird im „Mörikejahr“ landauf, landab gefeiert – und mit einer Ausstellung über „Mörike und die Künste“ im Schiller-Nationalmuseum bedacht. Zur Eröffnung vor einigen Wochen hatte Ministerpräsident Erwin Teufel als Geschenk die Zusage mitgebracht, dass sich das Land Baden-Württemberg zusammen mit privaten Sponsoren am Erwerb des Mörike-Nachlasses beteiligt: Für zwei Millionen Euro wird er dem Marbacher Archiv von der Stiftung Weimarer Klassik überlassen.

Konzipiert hat die Ausstellung Hans-Ulrich Simon, der sich seit 30 Jahren in Marbach mit Mörike beschäftigt und Mitherausgeber der historisch-kritischen Werkausgabe des Dichters ist. Zusammen mit seiner Mitarbeiterin Regine Cerfontaine will Simon dem überlieferten Bild vom schwäbischen Idylliker Mörike eine „realistische Sichtweise auf das Leben und Werk des Dichters“ entgegensetzen. Dabei ist ihm ein faszinierendes Panorama des kulturellen Lebens der bürgerlichen Schichten Württembergs in der Mitte des 19. Jahrhunderts gelungen.

Während sich Mörike in seinem ungeliebten Beruf als protestantischer Geistlicher von Vikarstelle zu Vikarstelle, von Pfarrhaus zu Pfarrhaus durch die württembergischen Dörfer und Kleinstädte schleppte, folgte in Paris eine Revolution auf die andere. Kaiser Louis Napoléon löste den Bürgerkönig Louis Philippe ab, Balzac, Flaubert und Baudelaire schrieben von Glanz und Elend in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, von Kurtisanen, Börsenspekulanten und Hochstaplern, den wilden Fieberträumen und verlorenen Illusionen hoffnungsvoller junger Dichter. Und was passierte zur selben Zeit in Cleversulzbach, Mergentheim, Lorch oder in der württembergischen Residenzstadt Stuttgart? Man spielte heiles Familienleben, trieb Hausmusik, rezitierte Gedichte, besuchte ab und zu das Hoftheater und interessierte sich für das neue Medium der Fotografie.

Die Marbacher Schau beschönigt die Enge dieser Welt nicht, sondern macht sie sichtbar. Sie zeigt, wie alle Kunstausübung sich in die Intimität des Kleinen und Genrehaften zurückzieht. Die großen Opernarien stehen im Klavierauszug, an die Stelle des großen Ölbilds treten die Zeichnungen der Buchillustration. Die Erfindung der Fotografie ermöglichte breiten bürgerlichen Schichten erstmals den Zugang zu den klassischen Werken der Malerei, die jetzt als Reproduktionen zugänglich waren. Eine Reise zu den Originalen in Florenz, Paris oder Amsterdam konnten sich nur die wenigsten leisten.

Erst vor dem Hintergrund dieser Enge wird Mörikes Poesie verständlich: als Fantasie des Ausbruchs und der Überschreitung. „Ich möchte oft, im eigentlichen Sinn des Wortes, hinaus, wo eben kein Loch ist“, beschrieb der 23-Jährige seine Situation als Provinzvikar. Der Freiburger Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit machte in seinem Eröffnungsvortrag diesen Zusammenhang zwischen Behinderung und poetischer Produktivität deutlich: Mörike sei „innerlich verglüht“, seine Poesie die „Asche des eigenen behinderten Lebens“.

Theweleit benannte auch die Quelle dieses inneren Feuers: Mörikes unerfüllte Jugendliebe zu Maria Meyer, die er als „Peregrina“, als „heilige Sünderin“, in einem Gedichtzyklus verewigt hat. Die Traumfrau, die den Tübinger Theologiestudenten innerlich aus der Bahn wirft, wird abgewehrt und zugleich gerettet, indem sie in Verse verwandelt, zur Muse der Poesie entschärft wird.

Es überrascht daher nicht, dass Mozarts „Don Giovanni“ die Lieblingsoper des jungen Mörike war, vor der er sich später fürchtete, „weil sie zu viele subjektive Elemente für mich hat und einen Überschwall von altem Dufte, Schmerz und Schönheit“. Die Marbacher Ausstellung wartet nicht mit spektakulären Thesen auf; aber wer sich geduldig in das von ihr präsentierte Material vertieft, begreift plötzlich, dass Baudelaires Pariser Kurtisanen in verwandelter Gestalt auch in der schwäbischen Provinz ihre Spuren hinterlassen haben: „Da bin ich wieder /Hergekommen aus weiter Welt!"

Bis 31. Oktober, Di–So von 10 bis 18 Uhr, Mi bis 20 Uhr. Der Marbacher Katalog Nr. 57 (mit einer CD als Beilage) hat 460 Seiten und kostet 30 Euro.

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