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History of Ecstasy: Das große Casino

Theater, Kunst und Politik: Neapolitanische Szenen mit Salman Rushdie, Francesco Clemente und Silvio Berlusconi.

Salman Rushdie ist gerade nach Neapel gekommen. Aber nicht, um Roberto Saviano zu besuchen. Dem Kollegen, der seit seinem „Gomorrha“-Buch unterm Fluch der camorristischen Fatwa lebt, hat Rushdie bereits geraten, für eine Weile besser Schutz in Amerika zu suchen. Rushdie tritt unter starker Bewachung mitten in der berühmt-berüchtigten neapolitanischen Altstadt auf, mit seinem Freund, dem vor 55 Jahren in Neapel geborenen, heute in New York lebenden Maler Francesco Clemente. Für ihn und die im Museo Madre eröffnete Retrospektive des Künstlers hat Rushdie auch eine neue Erzählung geschrieben.

Sie heißt „In the South“, und Rushdies Süden meint die indischen Küstenstädte so sehr wie Neapel. Meint diese tödliche Vitalität, so heiß und hirnverbrannt und im gleißenden Irrlicht des Mezzogiorno, so schwarz verrußt und verkommen wie die Metropole am schönsten Golf der alten Welt. Ein toller Blitz ist das Madre genannte Museum für zeitgenössische Kunst – ein Funke des Überlebens in der Stadt, die nach Ansicht des Künstlers Clemente regiert wird von „Anarchie, Dramen, Tragödien“. Das Madre haust in der Außenhaut eines modern entkernten barocken Klosterpalasts in einer unscheinbaren Gasse im Spanischen Viertel: jener kunsthistorisch glanzvollen, aber von anti-urbanem, buchstäblich asozialem Verfall geschlagenen Altstadt Neapels. Erst 2007 fertiggestellt, glänzte es schon damals mit einer Baselitz-Retrospektive – und ist, trotz seiner von Beuys bis Warhol, von Rebecca Horn bis Damien Hirst auch fast alle Klassiker der jüngsten Moderne präsentierenden Sammlung, im Ausland noch kaum bekannt.

Nun kommt Rushdie, präsentiert seine von Clemente mit 21 Zeichnungen illustrierte und exklusiv als englischsprachiger Sonderdruck zum Ausstellungskatalog erschienene Erzählung „In the South“. Das Südwerk hat den trocken melancholischen Ton fast eines Beckett-Textes und handelt zunächst von nicht mehr als von Junior und Senior, zwei ungeachtet des Namensunterschieds gut achtzigjährigen Männern. Der etwas jüngere Junior wird diesen indischen Tag nicht überleben: „The day Junior fell“. Eher beiläufig überfahren ihn zwei unachtsame Mädchen auf ihrem Motorroller. Diese alltäglichen „Vespa girls“, keine Hell Angels, sind indes nur Vorboten eines vor einigen Jahren Südasien und symbolisch den Rest der Welt überflutenden Seebebens.

Rushdie nennt bei diesem Beben nicht „the Japanese word everyone used to name the waters of death“. Das TsunamiMotiv aber passt auch zu Francesco Clementes Bildern aus 30 Jahren, die er im Madre unter das Motto „Schiffbruch mit Zuschauer“ stellt. Clemente, den Joseph Beuys bei dessen neapolitanischem Auftritt Anfang der achtziger Jahre erst richtig zum Zeichnen brachte, zitiert mit seinem Titel das gleichnamige Buch des Philosophen Hans Blumenberg aus dem Jahr 1982. Dieser hatte aus der römischen Antike das (kenternde) „Staatsschiff“ und die „Daseinsmetapher“ des Schiffbruchs von Lukrez übernommen. Clemente schlägt nun den Bogen von Neapel bis Benares, der Totenstadt am Ganges – und nennt schon 1985 ein Bild „My last Painting“, das surreal märchenhaft einen ins Meerwasser gehauenen Nagel mit einem Schlüssel zeigt. Ohne Schloss.

Clementes Arbeiten hängen inzwischen im New Yorker MoMa, und auch das Guggenheim Museum widmete ihm vor Jahren schon eine erste Retrospektive. Doch der Weltstar, der sich wechselweise wie ein indischer oder afrikanischer Volksmaler bunt emblematisch gibt und dann wieder die philosophische Abstraktion sucht, ist so recht auch von der Erotik besessen. Von theatralisch gespreizten Körpern und vom Riss in der männlich menschlichen, multisexuellen Identität. So tanzt sein Werk auch zwischen Kitsch und Kunst.

Wie zwischen Tag und Nacht. Mittags Stille, wenige aufmerksame Besucher in der Ausstellung im Oberstock des früheren Klosters. Am nächsten Abend, bald schon mitternächtlich, öffnet sich das Erdgeschoss des Madre hinter schwarzen Vorhängen und einem Verkehrsschild, das mit rotem Balken über der Zahl 18 den Einlass von Minderjährigen zu verhindern sucht. Jetzt spielen hier nicht nur Bilder, sondern wirkliche Körper. In einem Glasperlenkäfig, umlagert von einer dichtgedrängten Zuschauermenge, zelebriert der amerikanische Performancekünstler Ron Athey, Gründer einst der Gruppe Premature Ejaculation und bekennender Aids-Patient, seine „History of Ecstasy“.

Mit Weihrauch und entblößten tätowierten Männern, die auch mal eine Micky Maus vor dem Schwanz tragen, oder einer Nackttänzerin (Lisa Rifkin alias Pigpen), die sich in alle wesentlichen Körperöffnungen Schäume und Säfte einzuflößen weiß, um diese in sprühenden Fontänen wieder von sich zu geben. Das zeugt von einer gewissen inneren Akrobatik, zur Geschichte der Ekstase trägt diese Mischung aus kalter Brunst und schwülem Glitsch indes nur wenig bei.

Trotzdem, die Performance im Museum gehört zu Italiens neuestem, größtem internationalen Theaterfestival, das die verkommene, von der Politik schon fast aufgegebene Camorra-Gomorrha-Region Kampanien mit ihrer Hauptstadt Neapel wenigstens diesen und den nächsten Juni lang kulturell mit der Welt verbinden soll. Und tollkühn, mit ein paar Millionen Euro zwar, aber einer erkennbar improvisierenden Organisation, streut und stemmt der von Venedigs Biennale gekommene, ideenreiche Festivalchef Renato Quaglia nun Theater allüberall ins Dickicht der so schrecklich schönen, so magisch maroden Stadt.

Manche, die in den alten Gassen parterre leben, haben unterm Bett oder Küchentisch doppelte Böden, da geht’s aus den Wohnungen direkt in die Katakomben, in die antike Unterwelt Neapels. Die Höhlen im Viertel Sanità, in das Fremde nachts besser nicht unbegleitet hinfinden sollten – riesige Kavernen aus den Zeiten der griechischen Kolonisatoren –, sind heute oft wilde Parkplätze. Einmal führen Musiker und neapolitanisch sprechende Komödianten jeweils 30 Zuschauer aus der Gasse über einen Hof, wo Vespas und Fiats parken, in einen Keller – und unversehens beginnt dort ein Ausgrabungsgebiet, ein unterirdisches Labyrinth. Jemand ruft auf einmal, er sei Nero. Da öffnet sich wieder ein Hof, und wir sind, mitten zwischen nachtschwarz aufragenden Wohnhäusern mit windigen Balkonen, wehenden Wäschen auf der von Kerzen erhellten Bühne einer wiederentdeckten römischen Rest-Arena. So zeigt das Festival Neapels „Teatro sommerso“, das versunkene, überflutete Theater. Zeitbruch mit Zuschauer.

Auch das deutschsprachige Theater kommt nach Neapel. Christoph Marthaler mit seinem schon bei den Wiener Festwochen gezeigten „Riesenbutzbach“. Oder Matthias Langhoff entwickelt in einer malerischen aufgelassenen Barockbasilika mit ein paar Berliner und neapolitanischen (überwiegend arbeitslosen) Schauspielern ein Stück über Theater und Arbeit, inspiriert ursprünglich von Heiner Müllers „Lohndrücker“.

Am tollsten aber sind immer die Räume. Giorgio Barberio Corsetti hat ein Stück von Chay Yew aus Singapur über Migranten und den chinesisch-italienischen Marken- und Fake-Modehandel mit italienischen und asiatischen Akteuren in den gigantischen Ruinen-Höfen des an der Straßenfront über 350 Meter langen, im 18. Jahrhundert für 8000 Obdachlose erbauten Albergo dei Poveri inszeniert. Das einst größte Armenhaus der Welt wird nun, als Spiegel neuer sozialer Konflikte, zur luxuriösen Drehbühne: mit Videoprojektionen und einem formal imposanten, in der Substanz allerdings eher armen Freilichtspektakel.

Zur Europawahl gab’s „L’Européenne“ im goldenen Teatro San Carlo, dem bis ins 20. Jahrhundert weltberühmtesten Opernhaus. In drei Sprachen und mit Chören und Orchestern hat der Franzose David Lescot die Brüsseler EU dramatisch erkundet. Doch der einzige Konflikt der Kommission ist die Frage einer neuen europäischen Hymne, statt Beethoven und Schillers „Ode an die Freude“. Das wirkt angesichts der realen Konflikte Europas ziemlich gernegroß. Und verblasst in Italien vor der monumentalen Schmierenkomödie des wahren Lebens.

Man denkt ja, über die junge Neapolitanerin Noemi Letizia und ihren „Papi Silvio“ sei längst alles gesagt. Der Medienministerpräsident präsentiert sich dabei ungeniert als das, was er ist: als Vater eines großen „Casinos“. Das Wort bedeutet im Italienischen, je nach Betonung, Unordnung und Chaos wie auch: Puff. In Neapel aber kursieren ganz andere Geschichten und in der Presse noch ungestellte Fragen. Wie kommt der Mann, der sich jeden Tag unzählige Noemis kaufen kann, dazu, das ominöse Geburtstagsfest dieses Mädchens in Casoria aufzusuchen?

Casoria ist, nicht nur für Milliardäre und Regierungschefs, eine wüste, trostlose Vorstadt nördlich des neapolitanischen Flughafens. Es ist: schieres Camorra-Land. Casoria und seine Umgebung – dazu lese man noch einmal nach in Roberto Savianos „Gomorrha“. Ob Lockvogel, ob Erpressungsversuch, ob altersgeile Torheit: Die Geschichte hinter allen Anekdoten zu klären, wäre ein Fall für Saviano. Aber fände er nun wirklich die Wahrheit – in jener äußersten Wendung, die jedes wahre Drama ausmacht –, dann müsste Saviano wohl endgültig Salman Rushdies Rat folgen und das Land verlassen. Finita la commedia.

Napoli Teatro Festival, bis 28. Juni.

Details unter www.teatrofestivalitalia.it

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