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Pflegte dereinst Gretel Adorno. Der 1967 in Bad Nauheim geborene Schriftsteller Andreas Maier.

© imago/Hoffmann

Neuer Roman von Andreas Maier: Hoch ins Glas geschaut

Das Ich im Nichts: Andreas Maiers Roman „Die Universität“.

Das vorangestellte Motto ist ausnahmsweise kein Großschriftstellerzitat, sondern ein Extrakt dessen, was folgt. „Ich, das ist der Mittelteil des Wortes Nichts“. Ähnlich steht es auf Seite 127 als Erkenntnis des Philosophiestudenten Andreas Maier im Jahr 1988: „Da war kein Ich mehr, das alle diese Vorstellungen begleiten konnte, höchstens noch ein grammatisches, jene drei Buchstaben im Deutschen ‚Ich‘. Das Wort klang wie ein verstümmeltes und um seine schützende Hülle beschnittenes ‚Nichts‘.“

Maiers schmaler Roman „Die Universität“ ist selbst ein Mittelteil, nämlich Band sechs seiner auf elf Bände angelegten großen Heimat- und Selbsterkundung mit dem Arbeitstitel „Ortsumgehung“. In konzentrischen Kreisen führte diese Recherche bisher vom Elternhaus über Familie, Nachbarschaft, Schulfreundschaften und Stadtbekanntschaften hinaus in die nähere Umgebung der hessischen Wetterau, nach Frankfurt und zu ersten Vergeblichkeitserfahrungen in der scheuen Liebe zur Buchhändlertochter. Dabei erweiterte sich allmählich der Blick und richtete sich immer schärfer auf das Zentrum der Wahrnehmung, das eigene Ich. Es geht in dieser Ortsumgehung um ihn, Andreas Maier, und zugleich auch nicht, weil er sich im Schreiben in eine literarische Figur verwandelt – oder vielmehr sogar in zwei. Denn es gibt ihn doppelt: als Erzähler und als den, von dem er erzählt.

In „Die Universität“ geht es um das Lebensalter mit knapp zwanzig

Der Erzähler, Andreas Maier der Ältere, sitzt immer noch im Zimmer seines toten Onkels J. in Friedberg. Dieses Zimmer ist auch so ein Nicht-Ort wie das eigene Ich. In seiner Kindheit war es wegen des strengen Körpergeruchs des Onkels nahezu unbetretbar. Jetzt – und das ist immer noch und wahrscheinlich für immer das Jahr 2009 als Zeitpunkt des Erzählens – ist es der Mittelpunkt der Welt. Doch während die Zeit im Zentrum stillsteht, versetzt sie das erinnerte Ich in umso heftigere biografische Turbulenzen. Insofern ist es nur konsequent, wenn der Satz vom Ich, das im Nichts steckt, die jetzt erreichte Mitte des Großprojektes markiert. In „Die Universität“ geht es um das Lebensalter mit knapp zwanzig, in dem Maier der Jüngere dem eigenen Ich mit einer gewissen Skepsis zu begegnen lernte. Das ist aber auch eine allgemeine Erfahrung: Seine damalige Geliebte schreibt exemplarisch an einem Roman mit dem Titel „Die Masken im Nichts“, den aber niemand je zu sehen bekommt. Der Philosoph Karl Otto Apel erörtert im Seminar, warum die Welt sprachlich „wie durch Glas“ erscheine. Und der junge Student der Philosophie geht zwischen Thomas Manns Doktor Faustus, Descartes „Cogito“ und ausgedehnten Kneipenabenden verloren.

In einer Art Ouvertüre verirrt Maier sich in die Buchhandlung in Butzbach, wo die immer noch nicht überwundene Buchhändlertochter inzwischen arbeitet. Schwer zu sagen, was schrecklicher wäre: ihr zu begegnen – oder ihr nicht zu begegnen. Alles scheint in Butzbach geschrumpft: das Selbstbewusstsein, die Straßen und die Bücherregale. Wie in einer russischen Matroschka-Puppe stecken die immer kleineren Welten ineinander. Auch so kann das Ich verschwinden.

1988 unterwarf Maier sich Beckett-haften Schreibexerzitien

Das sogenannte Subjekt wurde damals in Gestalt des Strukturalismus ja auch theoretisch ausgetrieben. In einer grandiosen Szene beobachtet Maier im Seminar die Kommilitonen und macht sie damit zu Objekten – bis er zu seinem Entsetzen bemerkt, wie auch er von einem anderen in den Blick genommen und objektiviert wird. Von da aus ist es nicht mehr weit bis zum juckenden Hautausschlag, der als Nesselsucht diagnostiziert wird – oder vielmehr als Allergie auf sich selbst. „Die Universität“ ist ein durchaus lustiges Buch. Das liegt am genauen Blick, den Maier auf sich und die anderen wirft. Als Erzähler ist er immer auch Essayist und Analytiker. Das macht den besonderen Reiz seiner Prosa aus.

Damals, 1988, unterwarf er sich Beckett-haften Schreibexerzitien, in denen es um eigenschafts- und konturlose Personen ging, die durch nichts als ihre Leere gerechtfertigt sein durften. Aus diesem Zustand half ausgerechnet Gretel Adorno, die Witwe des berühmten Philosophen, heraus. Maier begegnete ihr als studentische Hilfskraft in der Altenpflege. Sie ist der „Härtefall“ und hat unzählige Fachkräfte mit ihrem Geschrei, ihrem Kratzen und ihren Wutattacken zerschlissen. Doch in ihrem halbdementen, hinfälligen Zustand scheint sie genau das zu verteidigen, was Maier so hartnäckig umkreist: das eigene, schüchterne Ich.

Irgendwann wird dieses kaum zu fassende Etwas wohl über sein Schweigen hinausfinden müssen, um sich dem wortreichen Erzähler anzunähern, der sich 2009 im Zimmer des Onkels zurückerinnert. Die Erinnerung ist unerschöpflich, und das Universum ist auch in der Wetterau groß. Es könnte also sein, dass Andreas Maier gar nie dort ankommt, wo er sitzt und schreibt, sondern unterwegs verloren geht. Das Ich ist ja bloß der Mittelteil von Nichts. Unterdessen aber schraubt sich die „Ortsumgehung“ immer tiefer in die Geschichte der deutschen Provinz und ins eigene Dasein hinein.

Andreas Maier: Die Universität. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 146 Seiten, 20 €.

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