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Hör BÜCHER: Menetekel mit Kleingedrucktem

Das Foto, das zu seinem Geburtstag in der Zeitung erschien, zeigte einen weißhaarigen, äußerst jungenhaft wirkenden Mann, der hellwach und neugierig in die Welt blickt. Am 14.

Das Foto, das zu seinem Geburtstag in der Zeitung erschien, zeigte einen weißhaarigen, äußerst jungenhaft wirkenden Mann, der hellwach und neugierig in die Welt blickt. Am 14. Februar dieses Jahres wurde Alexander Kluge achtzig Jahre alt. Die Vorfahren des 1932 in Halberstadt geborenen Autors und Filmemachers waren Großuhrmacher. Etwas von dieser Familientradition hat sich in Kluges Werk erhalten: Auf seine beharrliche Weise akribisch untersucht er, was das Getriebe der Welt am Laufen hält. Oder eben: auch nicht.

In „Die Pranke der Natur und wir Menschen]“ (Hörkunst Kunstmann, 2012) spürt er den Erschütterungen nach, die die Großkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima auf unserem Planeten ausgelöst haben. „Das Menetekel samt Kleingedrucktem“ (O-Ton Kluge, Track 12), das die Natur uns vorhält, ist ein Text, den zu lesen sich lohnt. Kluges seismografische Fähigkeit zeigt sich darin, wie er noch in entferntesten historischen Begebenheiten (etwa dem Erdbeben von Lissabon 1755), in naturwissenschaftlichen Beobachtungen und Experimenten sowie philosophischen Reflexionen Antworten auf die Frage nach unserem Umgang mit der Natur sucht und wie dabei zwangsläufig auch die zwiespältige Natur des Menschen selbst ins Blickfeld rückt. Kluges Sprache ist makellos klar. Er ist ein Magier des Präzisen.

Hervorzuheben ist Karl Bruckmaiers kluge (sic!) Regie. Würden all die disparaten Teile, die Kluge verwendet, miteinander verwoben, entstünde ein irrationaler Klangteppich. Bruckmaier verzichtet auf jede Art von akustischer Überrumpelungsästhetik, er mixt nicht alles durcheinander, sondern stellt die einzelnen Bausteine in ihrer Besonderheit aus, so wie in einer Vitrine. Der Hörer wird nicht bevormundet; an ihm ist es, das Unterschiedliche zu verbinden. „Wirklichkeit“, so Kluge (Track 17), „entsteht, indem wir uns gegenseitig Geschichten erzählen.“ In genau diesem Sinne ist Alexander Kluge ein Weltenschöpfer.

Während Kluge die Welt im Großen (und Ganzen) betrachtet, widmet sich David Foster Wallace, der vor vier Jahren aus dem Leben geschiedene Autor des legendären Romans „Unendlicher Spaß“ der Welt im Kleinen. In seiner Rede vor Absolventen des Kenyon College „This is water/Das hier ist Wasser“ (englisch/deutsch, Tacheles Roof Music, 2012) stellt er sich und seinen Zuhörern die scheinbar simple Frage: Wie wird man erwachsen? Weil Wallace kein Sonntagsredner ist, sondern ein Schriftsteller, nimmt er seine jugendliche Zuhörerschaft mit auf eine Zeitreise in die trostlose Routine eines normalen Erwachsenenalltags: Wie man nach der Arbeit noch schnell in einen Supermarkt muss und dort Tappergreise, die sich „im Tempo der Kontinentaldrift“ bewegen, einem permanent den Weg verstellen, wie die frostig-freundliche Kassiererin einem nicht nur das Wechselgeld, sondern auch den Rest gibt, oder wie das nervtötend, notorisch mit Linksdrall eiernde Rad des Einkaufswagens uns auf dem Parkplatz fast vom richtigen Wege abbringt. Falls man „auf Autopilot“ läuft, wird man all dies als Weltverschwörung, als Kränkung wahrnehmen. So zu denken bedarf es keiner großen Entscheidung. Entscheidend wird es, wenn wir uns selbst entschließen, worüber sich nachzudenken lohnt und worüber wir uns wirklich nicht aufregen sollten.

David Nathan liest die deutsche Übersetzung (Track 2) exzellent. Auf keinen Fall aber darf man sich das Originaltondokument (Track 1) entgehen lassen. Da fehlte nicht nur die Hälfte des Hörbuchs, da fehlte fast alles: zum Beispiel die besondere Atmosphäre, die Wallace mit seinem Publikum herstellt. Den von Ulrich Blumenbach übersetzten Text zum (zweisprachigen) Mitlesen bietet das gerade erschienene KiWi-Paperback gleichen Titels (62 Seiten, 4,99 €).

In „Der heilige Pillendreher“ (Buchfunk, 2010) präsentiert uns der Entomologe Jean-Henri Fabre (1823–1915), dem Matthes & Seitz gerade eine Werkausgabe widmet, die Welt im winzig kleinen, fast mikroskopischen Maßstab – habe ich vielleicht deshalb diese erstaunliche Produktion vor zwei Jahren übersehen, überhört? Unerhört! Sicher eines der schönsten Hörbücher, das mir je zu Ohren gekommen ist: Nächstens dazu mehr.

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