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Buch der Woche: Hohes Fieber im Land

„Stadt der Clowns“: Daniel Alarcón erzählt Geschichten aus einem zerrissenen Peru.

Zehn Jahre lang terrorisierte die maoistische Gruppe „Sendero Luminoso“ (Leuchtender Pfad), gegründet von einem Philosophieprofessor, ganz Peru. Mehr als 70 000 Menschen starben in diesem Bürgerkrieg, größtenteils durch Anschläge der Rebellen, die ganze Dörfer in ihren Dienst zwangen. Viele junge Leute flohen deshalb in die Küstenstädte, vor allem nach Lima, wo Sterben ein „Volkssport“ war, wie es in der Titelgeschichte von Daniel Alarcóns Erzählungsband „Stadt der Clowns“ heißt: Wer besonders skandalös zu Tode kam, den feierten die Zeitungen mit knalligen Schlagzeilen.

Vor diesem Hintergrund erzählen die kühl beobachtenden, psychologisch genauen Geschichten von Daniel Alarcón vom verstörenden Alltag in einem Land, in dem die Hälfte aller Einwohner jünger als 24 Jahre ist, arm und hungrig nach Erfolg. In jeder Geschichte ist eine spröde Liebeserklärung an dieses Land versteckt. Sie sind stolz, die Bewohner von Lima, sie haben sich jedes ihrer Viertel erkämpft – so wie Los Miles, das Hunderte in einer Nacht erbauen, aus Decken und Wellblech, Pappe und Holzstangen, denn „fertige“ Häuser dürfen nicht niedergewalzt werden. Im Morgengrauen bilden sie gegen die Bulldozer eine Menschenkette, hier ist unser Zuhause, sagen sie, „und der Staat kratzte sich an seinem fiebrigen Kopf“, bevor er abzog.

Wer hier überleben will, muss schnell und skrupellos sein, so wie die Clowns, die überall in Lima zu sehen sind: Sie betteln, verkaufen Bonbons oder führen Kunststücke vor. Manchmal flankieren sie einen Protestzug von Schuhputzjungen, der über die Boulevards marschiert. Dann lassen die Ladeninhaber voller Panik die Rollläden herunter, um sie nach wenigen Minuten erleichtert wieder heraufzuziehen, weil keine Bombe explodiert ist. Doch es gibt auch Ausbrüche grotesker Gewalt, wie jene „revolutionären“ Aktionen von Kunststudenten, die herrenlose Hunde töten und sie, verziert mit antikapitalistischen Slogans, an Laternen aufhängen. Mit strengem, rhythmischem Sound, den Friederike Meltendorf gekonnt ins Deutsche gebracht hat, schildert Alarcón, der 1980 als Kleinkind mit seiner Familie in die USA auswanderte und heute in Oakland lebt, wie es sich anfühlt, nachts in politischer Mission durch die leere Stadt zu fahren, mit einem schweigenden Begleiter, der überraschend die Fassung verliert. Bei seinem nächsten Einsatz muss Fernando, von Beruf Philosophieprofessor und ein sanfteres Spiegelbild des Sendero-Luminoso-Gründers, im Dschungel Rebellen schulen, die ihm verstört und kindlich vorkommen. Er wird diesen Einsatz nicht überleben.

Wie im Zeitraffer rollt Alarcón die Schichten eines prekären Lebens auf, von den hochemotionalen politischen Anfängen über das schwierige Eheleben bis zu der immer stärker werdenden Neigung, „große Ideen in unlösbaren Knoten persönlicher Angst zu bündeln“ („Krieg bei Kerzenschein“). Die schönsten Geschichten beginnen in den Armenvierteln Los Miles und San Juan de Lurigancho, wo Alarcón einige Jahre Fotografie unterrichtete. Hier steht das Haus des blinden Liebespaares Matilde und Ramón, die von einer zerstörten Fußgängerbrücke in den Tod stürzen und in deren leerem, dunklem Haus sich der Erzähler merkwürdig glücklich fühlt („Die Brücke“). Hier beginnt die mühsame Selbstbefreiung von Oscar, den sein Vater zum Einbrecher erzogen hat – er bewirbt sich als Reporter und tritt zum Vorstellungsgespräch in einem Anzug an, den er einst einem arroganten Klassenkameraden gestohlen hat.

Alarcóns Figuren probieren verschiedene Identitäten und Rollen aus. Ihre entschlossenen Gesichter fordern: „Lach mich aus. Beleidige mich. Und wenn du es tust, habe ich gewonnen“, während sie durch ihren stinkenden Stadt-Organismus streifen. Alle zwölf Stunden explodiert über ihnen ein greller Morgen und erfüllt sie mit „einem Optimismus, der an Wahn grenzte“. Doch auch in ganz zarten, poetischen Bildern kann der in den USA zu Recht hochgeschätzte, hier für seinen apokalyptischen Roman „Lost City Radio“ mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnete Daniel Alarcón erzählen – wie jenem von dem verbogenen Kupferdraht in der Hosentasche des blinden Ramón, seiner Landkarte, dank der er sich noch nie verirrt hat.

Daniel Alarcón: Stadt der Clowns. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Friederike Meltendorf. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012.

188 S., 18,90 €.

Nicole Henneberg

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