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Kultur: Homo laber

München gewinnt: Wie das 42. Berliner Theatertreffen doch noch ein gutes Ende fand

Wozu hat der Mensch seinen Kopf? Nun, er braucht ihn zum Beispiel für den Sex. Oder um die Bretter zu bohren, die unsere Theaterwelt bedeuten. Es war kopfig, das 42. Berliner Gipfeltreffen der deutschsprachigen Bühnen. Eines seiner sprechendsten Bilder: der riesige talking head im Zürcher „Homo Faber“. Eine auf der Seite liegende, meterhohe Skulptur, auf die Regisseur Stefan Pucher das Gesicht des Schauspielers Robert Hunger-Bühler projizieren lässt. Ein technisches Kabinettsstück – und eben arg hirnschmalzig, wie diese ganze welke Max-Frisch-Adaption. Kann man zum Theatertreffen einladen. Muss man aber nicht. Homo laber.

Verkopft kamen Michael Thalheimers Hamburger „Lulu“ daher (warum, zum Teufel, wählte die Jury nicht seinen sinnlichen Berliner „Faust“?). Ein – animierenderes – Denkstück sind auch Johan Simons’ „Elemementarteilchen“ nach dem Roman von Houellebecq. Mit starken Schauspielern wie André Jung und noch einmal Hunger-Bühler und einer strengen Konzeption. Eine gewisse Blutleere und Intellektualität ist allgemein zu diagnostizieren – bei Stefan Puchers „Othello“ aus Hamburg (dessen Nacktheit und Sexszenen bleiben Behauptung) und letztlich auch bei Jürgen Goschs „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ vom Deutschen Theater Berlin. Calvinistische Theatralik. Dicke Bretter, dünne Luft. Man kann es auch mit den allseits beliebten Schlagworten sagen: Wenn es einen Rückzug des Regietheaters gibt, dann in die Grübelei. Und wenn das bedeutet, dass der Schaupieler wieder stärker ins Zentrum rückt, dann geschieht dies in einer hamletischen Pose des von der Gedanken Blässe Angekränkelten. Nein: Thesen, die man aus diesem Theatertreffen zieht, halten höchstens bis zur nächsten Premierenfeier.

Manchmal spürte man im Parkett geradezu körperlich die Denkanstrengung der Jury, das berühmte Tableau des Theaterjahrgangs aufzubauen. Wir brauchen ein Stück Gegenwartsdramatik, am besten aus der Provinz, werden sich die sieben unermüdlich reisenden Kritiker gesagt haben. Und so kam Hannovers „Hotel Paraiso“ von Lutz Hübner nach Berlin. Eine vollkommen unverständliche Wahl.

Ebenso ärgerlich und nicht nachvollziehbar bleibt Andrea Breths Entscheidung, ihren Wiener „Don Carlos“ nicht zum Theatertreffen zu bringen. Denn ihr Schiller fehlte, ästhetisch, politisch. Sein Ausfall verzerrte das Bild. Andrea Breth wollte nicht den geringsten Transportschwund riskieren. Sie hat mit ihrer Starrheit all die Regisseure und Bühnenbildner und Schauspieler brüskiert, die zum Teil unter erheblichen Schwierigkeiten auf Berliner Bühnen ihre Aufführungen einrichteten. Sollte die Breth’sche Verweigerungshaltung Schule machen, ist das Theatertreffen in seiner Substanz bedroht. Es gibt keine Reiseversicherung für Theatergastspiele. Hatten nicht auch die Münchner Kammerspiele mit den Berliner Verhältnissen zu kämpfen?

Am Ende dieses Theatertreffens standen sie als strahlende Sieger da: Intendant Frank Baumbauer und sein fabelhaftes Ensemble. Der Münchner Triumph ist aus vielerlei Gründen überraschend und schön. Weil man Baumbauer nach dem schweren Start in den renovierten Kammerspielen fast schon aufgegeben hatte. Weil Andreas Kriegenburg mit den preisgekrönten „Nibelungen“ etwas Seltenes gelungen ist: die sprunghafte künstlerische Weiterentwicklung eines Regisseurs, der früher zu Plump- und Plattheiten neigte. Und weil beide Münchner Aufführungen mit ungewöhnlich schweren und seltenen Stoffen operieren: Hebbels deutschem Monsterdrama und Paul Claudels hundert Jahre alter „Mittagswende“.

Der Franzose, Dichter, Diplomat und Erzkatholik, ist ein Fremder, ein Exot auf deutschen Bühnen. Jossi Wieler hat ihn entdeckt, in einer luziden, schwebenden, sprachschönen Inszenierung. Ein libidinöses Viereck vor kolonialem Hintergrund in China: Wie Hans Kremer, Stephan Bissmeier, Jochen Noch und Nina Kunzendorf, diese atemberaubende Schauspielerin, Pathos und Liebesirrsinn ausloten, davon kann man noch lange schwärmen. Man sperrt Augen, Mund und Ohren auf. Auch dazu braucht der Theatermensch seinen Kopf. Zum Träumen.

Rüdiger Schaper

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