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Annika Reich: Debütroman "Durch den Wind": Hü und hott

Sex in the City - und nichts als Ärger und Krisen: Annika Reichs Debütroman erkundet die Unentschiedenheit der Dreißigjährigen.

Sie war zu alt, um zu fliehen, und zu jung, um nach Hause zu fahren.“ Fast ist es egal, welche der vier Protagonistinnen aus Annika Reichs Romandebüt „Durch den Wind“ das denkt. Es trifft auf alle vier gleichermaßen zu, wenn auch unter je anderen Vorzeichen. Alle sind sie Mitte dreißig, leben in Berlin-Mitte und müssen mehr oder minder überrascht zur Kenntnis nehmen, dass ihr Leben festgefahren ist – oder noch gar nicht richtig angefangen hat.

Nun hängen sie in einem etwas fadenscheinigen Dazwischen fest, haben weder den Mut, etwas ganz Neues anzufangen (vermutlich wüssten sie gar nicht so recht, was genau das sein sollte), noch den Willen, sich mit einem gewissen Glück in das zu fügen, was ist. Die Farbe Weiß, die sich als Motiv durch den Roman zieht, mag für diese Unentschiedenheit stehen, die natürlich immer auch ein Weg ist, unbehaftbar zu bleiben.

Mit einer Party, die in den letzten Zügen liegt, lässt Reich ihren Roman beginnen. Ein einzelner Mann dreht sich noch auf der Tanzfläche, alle anderen stehen müde und weinselig herum. Reich nutzt dieses tableau vivant, um jede der vier Frauen schon einmal schlaglichtartig vorzustellen. Die schöne blonde Siri, die fahrig eine Zigarette nach der anderen raucht und in einer Mischung aus Verachtung und Verzweiflung auf ihren Mann Eduard blickt, der an der anderen Seite des Raums unbeschwert plaudert. Die rothaarige, ein bisschen verhuschte Alison, die versunken an ihrem Freund Victor lehnt. Das Bild eines symbiotischen Paars, dem aber bereits etwas Unheilvolles beigegeben ist. Yoko, die Japanerin, die mit einem fremden Mann flirtet und deren Lebensstil und wechselnde Affären genauso kühl konzipiert sind wie die Gebäude, die sie als Architektin entwirft. Schließlich Friederike, deren etwas draller Körper Lebensfreude ausstrahlen könnte, die sich aber den ganzen Abend nur bemüht über die Tanzfläche bewegt hat, weil wieder einmal der ersehnte Mann, Tom, nicht erschienen ist.

Auf die Party folgt die Katerstimmung. Das ist in diesem Fall nicht nur auf den folgenden Sonntagmorgen zu münzen, sondern als grundsätzlicher Befund einer Generation und eines Milieus zu verstehen. Siri reibt sich in der unglücklichen Ehe mit dem gutmütigen Eduard auf. Und während sie sich vor allem des gemeinsamen Sohnes wegen nicht zu einer Trennung durchringen kann, muss sie mit ansehen, wie ausgerechnet ihre Großmutter nichts zurücklässt außer einem Abschiedsbrief und über Nacht zu ihrem Liebhaber entschwindet.

Fast umgekehrt, aber kaum besser steht es um Friederike: Sie betreibt einen dieser eigenartigen Läden, auf die man in Berlin-Mitte noch immer trifft, ein bisschen Galerie, ein bisschen Café. Ihre Dissertation hat sie dafür sausen lassen, womit sie beständig hadert. Was sie aber mehr als alles andere und geradezu schmerzhaft herbeisehnt, ist eine Familie. Genau das also, was Siri gerade loszuwerden versucht.

Dass spätestens in den Dreißigern, wenn man aus den einmal schier unendlich scheinenden Lebensmöglichkeiten ein paar wenige auswählen muss, der große Katzenjammer anfängt, ist keine umwerfende Erkenntnis. Glücklicherweise aber ist Reichs Roman anders als die zahllosen Thirty-Something-Geschichten, in denen sich in wohltemperiertem Ambiente mehr oder minder genüsslich gelangweilt oder gegrämt wird. Einerseits scheut Reich sich nicht, nach Kräften Mitte-Flair zu versprühen. Man könnte auch sagen: Klischees. Wer mag, kann dazu noch einen Hauch „Sex in the City“ in der Geschichte finden. Gleichsam ist der Roman aber mit einem Netz aus philosophischen und literarischen Verweisen durchzogen, die die täglichen Sackgassen auf einer grundsätzlicherenEbene reflektieren lassen. Eine Mischung aus Unterhaltsamkeit, Tiefsinn und Milieustudie mithin, die erstaunlich gut funktioniert.

Wirklich spannend wird das Ganze in dem Moment, in dem man gewahr wird, dass Reichs Roman einen doppelten Boden hat. Mehr und mehr gleiten die einzelnen Episoden ins Surreale. Oder aber, auch das ist möglich, sie werden von den Frauen ins Irreale fortgesponnen. Es beginnt mit einem leisen Zweifel daran, ob Tom wirklich so bindungsunwillig ist, wie Friederike ihn beschreibt. Sehr eigenartig auch Siris Verdacht, Eduard hätte ihr eine Überdosis Schlaftabletten eingeflößt. Vollends irritiert wähnt man sich, als Alison, die ihren in Japan vermissten Freund sucht, plötzlich eine Doppelgängerin zu haben scheint.

Annika Reichs Figuren ist nicht recht über den Weg zu trauen. Womöglich wird die eigene Unentschiedenheit, das Weiß, ihnen zu einer Projektionsfläche, auf die sie kontrastreich eine Tragik und Krisenhaftigkeit auftragen, die ihrem Leben eigentlich abgeht. Mehr als alles andere ist vermutlich genau das die Signatur einer Wohlstandsgesellschaft, wie man sie kondensiert nirgends besser als in Berlin-Mitte findet.

Annika Reich: Durch den Wind.

Roman. Carl Hanser Verlag, München 2010. 336 Seiten, 19,90 €.

Wiebke Porombka

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