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Kultur: Ich erschaffe mich selbst Susan Sontag in

ihren Tagebüchern

Von Gregor Dotzauer

Das Tagebuch als literarische Form war ihr egal. Die Journale, die sich nach Susan Sontags Tod in verschiedenen Zimmern ihres Manhattaner Apartments fanden, enthalten eine Mixtur aus Gewissenserforschung, hinstenografierten Gefühlen, Aphorismen und Maximen, Verabredungs- und Lektürenotizen – alles unverbunden, nicht im Mindesten mit Blick auf eine spätere Veröffentlichung geschrieben, aber mit einem Ziel: „Im Tagebuch drücke ich mich nicht nur offener aus, als ich es gegenüber jeder anderen Person könnte; ich erschaffe mich selbst.“ So notiert es die 25-Jährige an Silvester 1958 in Paris und ist zwischen dem Tagebuch als Werkzeugkasten und Privatschatulle doch nicht ganz entschieden. „Bekenntnisse, ich meine natürlich ehrliche Bekenntnisse, können seichter sein als jede Handlung“, heißt es kurz darauf, als wollte sie sich darüber hinwegtrösten, dass sie in den heimlich gelesenen Tagebüchern ihrer Geliebten Harriet abfällige Bemerkungen über sich entdeckt hat. „Fühle ich mich schuldig, dass ich etwas gelesen habe, das nicht für meine Augen bestimmt war? Nein. Eine entscheidende (soziale) Funktion eines Journals ist es gerade, im Verborgenen von anderen gelesen zu werden, denen gegenüber (wie Eltern + Geliebten) man nur im Tagebuch grausam ehrlich war.“

Man muss das auch als Erlaubnis verstehen, sich in die umfangreichen Auszüge aus ihren eigenen Tagebüchern zu vertiefen, die letzten September im „New York Times Magazine“ erschienen sind (vollständig frühestens 2008 in ihrem Hausverlag Farrar, Straus & Giroux). Für jeden, der auch nur eine Ahnung von Sontags Werk hat, sind die bis ins Jahr 1967 reichenden Textproben eine bewegende Lektüre. Sie zeugen von der tiefen Ernsthaftigkeit, mit der Susan Sontag nach einer Einheit von öffentlicher Intellektueller und privater Person suchte, und in der ein wesentlicher Teil ihres Charismas beschlossen lag. „Mein Wunsch zu schreiben“, notiert sie an Heiligabend 1959, „hängt mit meiner Homosexualität zusammen. Ich brauche diese Identität als Waffe, um mich mit der Waffe zu messen, die die Gesellschaft gegen mich hat.“ Was Konfession ist an solchen Sätzen, ist zugleich immer erkämpfter Gedanke – und die Radikalität ihrer Äußerungen alles andere als Selbststilisierung. „Der Schriftsteller“, glaubt sie, „muss aus vier Leuten bestehen: 1) dem Verrückten, dem Besessenen 2) dem Schwachkopf 3) dem Stilisten 4) dem Kritiker.“ Jeder erfüllt dabei seine Aufgabe: „1) stellt das Material zur Verfügung 2) lässt es heraus 3) ist Geschmack 4) ist Intelligenz.“ Ein großer Schriftsteller, behauptet sie, besitzt alle vier Eigenschaften, ein guter komme aber auch nur mit den ersten beiden aus. Keine Frage, zu welchem Schlag sie selbst gehörte.

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