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Kultur: „Ich will keine Lippengebete“

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Martin Walser, der heute seinen 80. Geburtstag feiert

Herr Walser, in welchem Alter hört es auf, dass man noch etwas erwartet?

Jeder Mensch weiß, dass letzten Endes nicht gelingen wird, was er will. Und trotzdem verlängert er andauernd sein Leben, um es doch noch zu kriegen. Das ist ein ganz alltäglicher Widerspruch in der menschlichen Existenz.

Sich selbst etwas vorzumachen?

Ja, das tut man aber nicht, ohne dass man auch daran glaubt. Die Selbsttäuschung ist schließlich erfolgreich. Und sie gelingt, weil man sie braucht.

Die anderen müssen aber mitmachen.

Das halte ich für das Realistische: Man sieht ein, dass es nicht geht; aber man ist gierig danach, getäuscht zu werden – damit man’s wieder für möglich hält. Das ist die wahre Konstitution, glaube ich, von uns Menschen heutzutage in Mitteleuropa. Jeder ist ein Betrogener, und jeder ist ein Betrüger. Aber keiner will es sein. Dadurch schleift man das ab.

Das klingt nicht nach dem Autor, der sagt: „Ich bin durch Widerspruch geworden, was ich bin.“

Messmer sagt das in „Messmers Gedanken“, ich sag das nicht. Und Messmer sagt das, wenn ich mich richtig erinnere, selbstkritisch. Der sagt: Wer bin ich denn? Ich weiß überhaupt nicht, wer ich bin. Denn der, der ich bin, bin ich nur geworden, weil ich widersprochen habe. Also bin ich nur der Widerspruch. Also haben mich die Bedingungen trotzdem besiegt. Denn ich bin ein Produkt dieses Widerspruchs. Und ich wäre doch gern eigenständig, unabhängig, frei.

Aber die Zustimmung ...

Wollte ich gerade noch sagen: die Zustimmung ist genauso eine Verführung, klar.

Ein Bedürfnis nach Abgrenzung durch Widerspruch haben Sie nicht?

Nein, habe ich nicht.

Obwohl Sie Wert darauf legen, sich nur nach dem eigenen Gewissen zu richten?

Ich habe ein Urbedürfnis nach Zustimmung. Ich bin harmoniesüchtig. Ich ertrage keinen Streit, und wenn ich ihn willkürlich entfache, dann habe ich darunter sehr zu leiden. In meinen Romanen gibt es gelegentlich Figuren, die sagen, dass sie bei ihren Eltern das Neinsagen nicht gelernt hätten. Das ist etwas, das auch ich selbst erfahren habe. Meine Mutter und mein Vater haben mir nicht beigebracht, Nein zu sagen. Ich sage dauernd Ja und muss nachher mühselig das erfüllen, was ich gesagt habe. Also ich bin krankhaft zustimmungssüchtig. Ein segensreicher Zustand ist das nicht.

Zum Glück heißt Zustimmung nicht nur, dass etwas abgenickt wird, sondern auch Miteinanderreden – bis zum Punkt der Übereinstimmung.

Das ist dann ein Bedürfnis nach einem Gewebe, das eine gemeinsame Wirklichkeit erst erlebbar macht.

Dieses ununterbrochene Miteinander ist dank Handy möglich geworden.

Könnte sein. Das Handy bringt’s. Da kann man einander am wenigsten verloren gehen. Aber gut – das ist auch eine Utopie. Die Utopie der banalen Redetotalität. Alles wird ununterbrochen ausgesprochen.

Verlernt man dadurch nicht das Selbstgespräch?

Der Tag hat 24 Stunden. Wenn man 23 Stunden mit dem Handy beschäftigt ist, bleibt immer noch eine Stunde fürs Selbstgespräch. Aber im Ernst – das sind zwei Sorten der Vergewisserung. Das Handy vermittelt die Illusion der Nähe und Gemeinsamkeit. Mir gefällt das schon. Aber daneben existiert noch die gute alte Einsamkeit. Im sogenannten Selbstgespräch wird mir deutlich: alle Arten der Nichtübereinstimmung, seien sie ethisch, politisch, ökonomisch, sozial. Der Handydialog dagegen hat den Charakter einer Dusche.

Einen erfrischenden?

Eher einen wärmenden. Auf jeden Fall ist die Sprache ein Element, das direkt ins Physiologische mündet und nicht viel Kopf und Existenz verlangt.

Sie haben einmal davon gesprochen, in der Sprache „selbst enthalten zu sein“. Was kann oder soll die Sprache für Sie leisten?

Einer meiner versuchsweisen Sätze in diesem Zusammenhang heißt: Sprache ist die „Hochzeit zwischen Natur und Geschichte“. In der Sprache, in den Sätzen, in der Grammatik, in den Wortgeschichten ist alles enthalten, was wir als Geschichte haben. Und wenn ich sie benutze, dann steige ich ein in eine Tradition. Andererseits lebe ich jetzt in einem noch nicht geschichtlichen Moment und habe alle möglichen Existenzbedürfnisse. Und die müssen mithilfe der Sprache erfüllt werden. Das ist die Hochzeit der Natur – gemeint bin ich – mit der Geschichte: Das ist die Sprache. So. Das war sozusagen die Totale. Jetzt machen wir eine Halbnah- und Großaufnahme: Da wird man feststellen, dass die Sprache Illusionsangebote enthält. Und jetzt springe ich auf ganz nah und sage: Die Sprache ist die Verwaltung des Nichts.

Also das Gegenstück zu allen vorgefertigten Angeboten?

Natürlich ist nicht die instrumentalisierbare Sprache, die ich Vokabular nenne, die Verwaltung des Nichts. Also die Sprache eines Arztes oder Pfarrers oder Lehrers oder Journalisten. Deswegen ist es ein bescheidenes schriftstellerisches Bedürfnis, dass man sagt: Ich möchte gerne für andere sichtbar machen, was Sprachmissbrauch, was Illusionsangebot ist. Man muss deshalb noch nicht jede Illusionsstiftung verneinen. Ich selbst habe ja auch einmal Versatzstücke von Sprachen benutzt, die nicht meine Sprache waren. Wenn ich in den Siebzigern in einem Aufsatz etwas über den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit schrieb – dann habe ich das damals akzeptiert aus dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Denn dahinter steht ein Bedürfnis. Ganze Welthälften sind bei diesem Bedürfnis in die Schule gegangen. Aber jetzt sehe ich: Ich hätte niemals diese fertigen Sprachportionen gebrauchen dürfen, als wäre es die aus mir stammende, existenziell von mir beglaubigte Sprache. Als ich realistischer wurde, bin ich dann auf ein anderes Wort gekommen: auf Abhängigkeit. Auf die Beschreibung der Abhängigkeit und die Deformation durch Abhängigkeit. Denn das ist etwas, was ich selber erlebt habe.

Und damit ließ sich dann Ihre Forderung einlösen, „in jedem Satz selbst ganz enthalten zu sein“?

Da konnte ich jedenfalls mitreden. Und ich bin für mich glaubhafter, wenn ich in meinen Sätzen enthalten bin. Vor ein paar Jahren habe ich, als ich den Friedenspreis bekam und in der Paulskirche reden musste, mindestens drei Wochen lang an einer Rede gearbeitet mit dem Titel: „Die Vertreibung ins Paradies“. Ich wollte sagen: Wir sind aus dem Paradies vertrieben worden, sollten im Schweiße unseres Angesichts draußen unser Brot verdienen, durch die Arbeit als Fluch. Jetzt haben wir keine Arbeit mehr oder jedenfalls zu wenig – jetzt werden wir zurückvertrieben ins Paradies.

Ein schöner Gedanke.

Ja, aber verlogen. Ich habe drei Wochen gearbeitet und dann gemerkt: dass das verlogen ist. Das kann für irgendjemanden wahr oder richtig sein, aber nicht für mich. Denn: ich war noch keinen Tag in meinem Leben arbeitslos. Ich kann da überhaupt nicht mitreden. Ich hätte eine Fremdsprache, eine soziologische Pseudosprache importieren müssen, wieder solche von anderen vorgefertigten Wörter. Und ich wäre für mich zutiefst unglaubhaft gewesen.

Stattdessen haben Sie darauf hingewiesen, dass die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit zum „Lippengebet“ verkommt. Haben Sie geahnt, dass Sie damit eine Kontroverse auslösen, die als „Walser-Bubis-Debatte“ in die Geschichte dieses Landes eingegangen ist?

Nein. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn mir das jemand vorausgesagt hätte. Wie gesagt – ich bin harmoniesüchtig. Deswegen ist für mich dieses Missverständnis auch so grotesk und so entsetzlich. Man hat mich zum Nationalisten gemacht. Ein Schriftsteller und Nationalist! Das ist unsinnig. Ich bin mit Dostojewski aufgewachsen, mit Dickens, Flaubert. Und diejenigen, die in den schlimmsten nationalistischen Zeiten am meisten über den Nationalismus hinausgedacht haben – das waren immer die Schriftsteller.

Sollte man vom Schriftsteller denn erwarten, dass er die Rolle des politischen Ratgebers übernimmt?

Vom Schriftsteller könnte man nur – wenn überhaupt – erwarten: dass er in der eigenen Sprache enthalten ist; dass er keine adressierte Sprache für andere benutzt. Ich will jedenfalls keine Lippengebete liefern. Und warum? Weil ich dann auch keine Verantwortung übernehmen würde. Ich will nur noch befördern oder ausdrücken, was ich, wenn ich handeln müsste, auch handelnd tun könnte.

Geht es Ihnen mit diesem Grundsatz heute besser?

Das weiß ich nicht. Es ist so. Ich käme mir sonst komisch vor.

Das Gespräch führte Angelika Brauer.

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