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Matthias Glasner: „Ich will weiter gehen, als erlaubt ist“

Interview: Regisseur Matthias Glasner über Schuld, mutiges Kino, Dreharbeiten bei minus 40 Grad und seinen Wettbewerbsfilm „Gnade“, in dem Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr die Hauptrollen spielen.

Herr Glasner, in „Gnade“ geht es um eine Fahrerflucht mit tödlichen Folgen. Ihre Filme erzählen oft von Schuldgefühlen, warum interessiert Sie das so?

Menschen, denen nicht bewusst ist, dass sie Schuld auf sich geladen haben, sind mir nicht geheuer, wegen ihrer Selbstgerechtigkeit. Mir sind die sympathischer, denen man beim Betreten eines Raums gleich anmerkt, dass sie Schuld empfinden. Scham ist mir jedenfalls ein sehr vertrautes Gefühl, auch Fremdschämen kenne ich gut. Ich empfinde Scham für uns Menschen als Spezies.

Klingt nach Erbsünde, sehr religiös.

Die Religion instrumentalisiert unsere Schuldgefühle, um uns klein zu halten. Das ist nicht meine Sache, ich glaube, dass wir in einer gottlosen Welt leben. Ich staune darüber, was wir Menschen einander antun können, dazu ist keine andere Spezies in der Lage. Manchmal denke ich, wir sind Außerirdische. Am Anfang von Kubricks „2001 – Odyssee im Weltall“ steht dieser schwarze Quader, ein Sinnbild dafür, dass die menschliche Vernunft, die viel Unheil angerichtet hat, von außen kam. Sie passt nicht in die Welt, wir alle passen nicht auf die Welt.

Machen Sie Filme, weil Sie sich so mit großen moralischen Fragen befassen können?

Nein, ich mache Filme wegen meiner Lust am Kino. Ich liebe das Kino, seit ich sechs bin, es ist meine Welt.

Als Kind sind Sie dreimal am Tag ins Kino gegangen. Sie sind Jahrgang 1965, da fand doch längst das große Kinosterben statt.

Aber die Kiez-Kinos existierten noch. Ich komme aus Hamburg-Altona, in Ottensen gab’s um die Ecke ein türkisches Kino, das Spiegel-Kino mit Exploitation-Filmen, „Godzilla“, „Bruce Lee“, italienischen Horrorfilmen, türkischen Melodramen ...

Gab es keine Alterskontrollen?

Der Jugendschutz stand erst bei George A. Romeros Zombiefilm „Dawn of the Dead“ vor der Tür, da war ich 14. Aber ich kam durch die Hintertür rein. Das Kino zog mich magisch an, trotz der Albträume. Bis heute ist es der Raum, in dem ich mich am wohlsten fühle. Auf Reisen schaue ich immer sofort, welche Kinos es gibt. Ich schlafe auch gut da, 24 Stunden Flug, dann Kino, wunderbar.

Und Ihre tollsten Kinos bisher?

Die Golden Theaters in Bangkok. Man sitzt nicht, man liegt, wickelt sich in Decken, junge Frauen knien vor einem nieder und nehmen die Essensbestellung auf. Man kann sich sogar die Füße massieren lassen. In dieser luxuriösen Art, Filme zu gucken, liegt vielleicht auch bei uns die Zukunft des Kinos. Ein anderes obskures Erlebnis hatte ich in Moskau, dort sah ich 1988 im größten Kino der Stadt „Die Hard“, mit 2000 Leuten. Ausländische Filme wurden damals von nur einem Sprecher live synchronisiert. Da läuft also dieser Actionfilm, die Post geht ab, Bruce Willis brüllt bei leise gedrehtem Ton, und der Synchronmann spricht ungerührt sein Russisch ins Mikro. Das hatte etwas Orwell’sches.

„Gnade“, „Der freie Wille“, das geht in die Magengrube. Wollen Sie den Zuschauer schockieren, wie Scorsese?

Ich mag Scorseses Extrovertiertheit der filmischen Mittel, aber da steht mir mein Schamgefühl im Weg. Filme, die auf Nummer sicher gehen und den guten Geschmack bedienen, liegen mir nicht. Man kann auch auf interessante Weise zurückhaltend filmen, Christian Petzold macht das gut. Aber ich habe Lust, einen Schritt weiter zu gehen, als erlaubt ist. Hab ich dich jetzt oder bist du sauer auf mich?

Sie machen auch Fernsehen, „Kriminaldauerdienst“, „Eva Blond“, „Tatort“. Eine Brotarbeit?

Ich drehe einfach gern. Im Fernsehen darf man vieles, was im Kino nicht geht, vor allem Genre. Im Kino funktionieren an deutschen Filmen nur Arthouse und Komödien, alles andere ist tot. Dominik Graf, der beste deutsche Genrefilmer, kann ein Lied davon singen. Alle schwärmen von den US-Serien, die lange Form ist interessant. Auf die erste Staffel von „KDD“ bin ich stolz, Figuren über zwölf Stunden entwickeln, das geht nur da.

„Gnade“ dauert immerhin 130 Minuten, Ihr vorletzter Film, „Der freie Wille“, 163.

Im Kino muss ich mich nicht an die Fernsehfilmlänge halten, das ist gut. Wenn im Fernsehen eine Figur von A nach B muss, schneidet man. Im Kino kann ich den Weg zeigen. Dabei kann etwas Unvorhergesehenes passieren. Auf der Fahrt zu unserem Gespräch habe ich angehalten, um eine Dose Red Bull zu kaufen, ich bin süchtig danach. Was gab es in dem Laden? Das Red-Bull-Original aus Bali, die Österreicher haben es ja den Balinesen geklaut. Offenbar ist jemand auf die Idee gekommen, das Original zu importieren, ohne Kohlensäure, toll! Darf ich? Es wird nach Kaugummi riechen, aber das muss jetzt sein (öffnet die Dose, trinkt).

Mit Jürgen Vogel, der in „Gnade“ die männliche Hauptrolle spielte, betreiben Sie seit 1996 die Produktionsfirma SchwarzweißFilm. Wie haben Sie sich kennengelernt?

Er stammt aus Schnelsen, wir sind im gleichen Krankenhaus geboren. Aber wir haben uns erst beim Casting für meinen Debütfilm „Die Mediocren“ kennengelernt. Ich hab mich nicht getraut, meine Freundin brachte ihm das Drehbuch. Wir leben zwar sehr verschieden, aber wenn es um die großen Fragen geht – Warum mache ich so viel falsch? Wer blickt mir da im Spiegel entgegen? –, ticken wir ähnlich. Ich mag seine Angstfreiheit.

Welche Regieanweisungen geben Sie?

Ich nenne nie die Namen der Figuren. Ich sage: „Jetzt kommt Birgit rein und trifft auf Jürgen.“ Und ich besetze Rollen danach, ob ich die Schauspieler als Menschen interessant finde. Birgit Minichmayr lernte ich auf einer Berlinale-Party kennen, sie ist eigen, voller Ängste, voller Sehnsucht, ein aufregender Mensch. Im Drehbuch verstand ich diese Frauenfigur nicht. Ihr Mann ist ein Arschloch, aber sie ist eine wahre Heilige, arbeitet im Hospiz, heißt Maria. Aber nach dem Unfall wird ihr Weg geradezu mystisch. Sie sagt unglaubliche Sätze: „Ich bin nicht dieser Mensch. Wenn ich die Fahrerflucht gestehe, dann bin ich immer die Frau, die das getan hat. Du bist immer der Mann von der Frau, der das getan hat. Unser Sohn ist immer der Sohn von der Frau, die das getan hat.“ Das ist eigentlich unspielbar. Alleine für so eine Szene würde ich einen Film drehen.

Gedreht wurde „Gnade“ in Norwegen, in der Kälte der Polarnacht. Eine zusätzliche Herausforderung?

Die Kamera, eine Red One, erwies sich als äußerst strapazierfähig. Ich drehe gerne woanders: Das Team wohnt im Hotel, keiner fährt nach der Arbeit heim zu seinen Beziehungsproblemen, draußen sind minus 40 Grad. Das Abenteuer, das ich inhaltlich möchte, spiegelt sich in den äußeren Bedingungen. Die Kälte ist kein Problem, Filmleute sind ungeheuer praktisch. Man trägt Stiefel von Ölförderern aus Alaska und steckt sich überall Wärmepads hin. Das größte Geschenk ist die Natur. Die Sonne steht knapp über dem Horizont, sechs Stunden lang gibt es traumhaftes Terrence-Malick-Licht, unglaublich!

Wollten Sie dorthin, weil die Landschaft sich so gut als Seelenlandschaft eignet?

Ich mag den Begriff nicht so. Die Landschaft dort genügt sich selbst. Sie will und braucht keine Menschen, aber da sind diese einsamen Häuser am Meer, und man fragt sich, warum wohnen die hier? Dann fragt man sich plötzlich: Warum will ich selber hier wohnen, warum habe ich Sehnsucht danach, ich einer Landschaft zu leben, die mich nicht will? Ursprünglich spielte die Geschichte in Kopenhagen. Ich fand es eine gute Idee, eine derart intime Geschichte in dieser grandiosen, abweisenden Felslandschaft anzusiedeln.

Was bedeutet denn „Gnade“ für Sie?

Ich habe Verständnis dafür, dass Menschen Opfer ihrer Schwächen und niederen Instinkte werden. Es ist ein schöner Gedanke, dass es Vergebung geben kann.

Schuld ist ein sehr deutsches Thema.

Ich empfinde das seit der Schulzeit so und zucke zusammen, wenn fröhlich Deutschlandfahnen geschwenkt werden. Die Gnade der späten Geburt habe ich nie erlebt. Es ist zu ungeheuerlich, was die Deutschen zu verantworten hatten.

Die Ernsthaftigkeit teilen Sie mit Ihren Berlinale-Konkurrenten Christian Petzold und Hans-Christian Schmid. Fühlen Sie sich einander als Regisseure verbunden?

Nein, ich fühle mich allein, isoliert. Dabei wäre ich gerne Teil einer Bewegung, wäre gern Nouvelle Vague und würde mich mit Truffaut und Godard im Café treffen und über Filme reden. Aber selbst das ist ja ein Mythos. Das Einzige, worüber sie diskutierten, war das Thema Geld, wie Eric Rohmer mal verraten hat. Ich wünschte, es würde Regisseure in Deutschland geben, die mir Mut machen.

– Das Gespräch führte Christiane Peitz.

„Im Fernsehen darf man vieles,

was im Kino nicht geht –

vor allem Genre“

Matthias Glasner, 1965 in Hamburg

geboren, debütierte mit „Die Mediocren“(1995), in dem auch Jürgen

Vogel
mitspielte. Vogel übernahm Hauptrollen in Glasners „Der freie Wille“ (Berlinale 2006), „This is Love“ (2009) und dem Wettbewerbsfilm „Gnade“, der heute Weltpremiere feiert.

Zu Glasners Fernsehfilmen gehören „Die fremde Frau“, „Die Stunde des Wolfes“ und etliche Serienfolgen.

Zurzeit probt er erstmals am Theater: Ingmar

Bergmans Ehedrama

„Treulose“ mit Corinna

Harfouch und Ernst Stötzner hat am 24. Mai am DT Premiere.

„Gnade“: 16.2., 19 Uhr (Berlinale-Palast), 17.2, 12 u. 22.30 Uhr, 18.2., 14.30 Uhr, 19.2., 15 Uhr (Friedrichstadt-Palast)

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