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Kultur: Im Anfang war der Mord – und Dichters Wort

Heute vor 200 Jahren wurde die Eidgenossenschaft nochmals geboren: mit der Weimarer Uraufführung des „Wilhelm Tell“. Ein Besuch der Schiller-Schweiz/Von Urs Widmer

Die Hohle Gasse . Kalt, Hochnebel. Die Hohle Gasse, tatsächlich ein Hohlweg, führt, wenn wir den Weg Gesslers gehen, leicht bergab. Mittelalterlich wirkende große Steine als Pflasterung. Rechts und links nicht allzu hohe Steinmauern. Bäume. Kein Mensch ist zu sehen. Da auch andere Wege nach Küssnacht führen, ist die Hohle Gasse kein echter Verkehrsweg. Aber ein glaubhaft alter Weg.

Altdorf . Frisch, Sonne. Altdorf ist ein hübsches Städtchen, dessen Gassen mittelalterlich wirken, obwohl die Häuser allesamt (es ist auf jedem alten Haus neu vermerkt) 1799 abgebrannt sind. (Der Feuerwächter Alban soll den Brand selber ausgelöst haben, weil der Föhnsturm ihm die Glut aus der Pfeife blies.) Jähe Felswände um Altdorf herum; man muss den Kopf in den Nacken legen, wenn man den Himmel sehen will. Die Passanten sind heiter, obwohl sie den Blick nach unten gerichtet halten. Das TellDenkmal, eine Wucht. Tell und sein Sohn: „Erzählen wird man von dem Schützen Tell, so lang die Berge stehn auf ihrem Grunde.“ Irgendwo steht auch das Datum der Gründung der Eidgenossenschaft: 1308. Dazu ein paar Banken, Kioske und Drogerien.

Bürglen liegt am Berg, es gibt kaum ebene Wege. Von Bürglen aus muss – in jenem 1799 – das brennende Altdorf, sehr nah darunter, wie ein Höllenchaos ausgesehen haben. Bürglen brannte aber nicht ab, und eine Inschrift deutet an, der Brand von Altdorf habe Bürglen vor den Franzosen bewahrt. Wer hier den Kopf hebt, sieht den Himmel immer noch nicht, sondern die steilen Hänge, an denen ein paar bescheidene Häuser kleben, wenige nur, von denen eines die Heimat Wilhelm Tells gewesen sein könnte, und Hedwigs und Walters und Wilhelm juniors. Das wird aber nirgendwo behauptet, keinerlei folkloristische Inszenierung. Das kleine Tell-Museum geschlossen. Kaum Menschen, es ist, trotz der schönen Sonne, zu frisch.

Die Tellsplatte . Kühl, Abendlicht. Es ist nicht gerade eine Platte, aber ein niederes Ufer, weit und breit die einzige Stelle auf dieser Seeseite, an der ein Schiffer an Land gelangen könnte. (Das tun die Schiffe auch heute noch.) Der Hang über der Tellsplatte äußerst steil. Wald und Felsen. Weiter oben eine kleine Wiese, auf der ein nun wirklich scheußliches Glockenspiel steht, das nicht aus Tells Zeit stammen kann. Es spielt zu jeder vollen Stunde „Là-haut sur la montagne“, ist arg verstimmt und hat auch eine Inschrift: „Die Schweizer Schokoladenindustrie der Bevölkerung“. Am Ufer steht im Übrigen eine Kapelle. Sie ist mit sehenswerten Darstellungen der Heldentaten Tells ausgemalt. Die wichtigsten Lebensstationen, auch sein Tod, denn Tell ertrank, als er ein Kind aus der Reuß retten wollte und offenkundig auch rettete, denn das Kind hieß Winkelried und war der, der später in der Schlacht bei Sempach ausrief „Schupfed doch nit eso!“ (vulgo: „Schubst doch nicht so!“).

Friedrich Schiller ist nie in der Schweiz gewesen, anders als sein Freund Goethe. Er benutzte aber Karten, und seine poetische Rechnung geht in der Wirklichkeit durchaus auf, denn seine Landschaftsbeschreibungen (manche Szenen sind: Landschaft und Wetter) finden sich in der wirklichen Innerschweiz widergespiegelt. Vielleicht ist die Innerschweiz ja von Gott erst nach 1804, dem Jahr der Entstehung des „Wilhelm Tell“, erschaffen worden, mit dem Text der Uraufführung in der Hand. Vielleicht aber auch hat Goethe Schiller mehr erzählt, als dieser zugibt. Er tut nämlich so, als habe sein älterer Freund, was den „Wilhelm Tell“ betrifft, gar keine Rolle gespielt. „Du hast vielleicht schon im vorigen Jahr davon reden hören, dass ich einen ,Wilhelm Tell’ bearbeite“, schreibt er am 9. 9. 1802 an Christian Gottfried Körner. „Es war mir niemals in den Sinn gekommen, weil aber die Nachfrage nach diesem Stück immer wiederholt wurde, so wurde ich aufmerksam gemacht, und fing an, Tschudis Schweizerische Geschichte zu studieren." Iffland gegenüber behauptet er gar einigermaßen keck: „Wilhelm Tell ist ein Sujet, wozu ich bloß veranlasst wurde, dass die Rede ging, ich mache ein solches Stück.“ Goethe beharrt später – Schiller ist tot – darauf, er habe seinen Freund mit der Nase auf den Stoff, der zuerst seiner gewesen sei, stoßen müssen. Goethe, der 1804 in Weimar die Uraufführung des „Tell“ inszenierte, erinnerte die Landschaft um den Vierwaldstättersee als „reizende, herrliche und großartige Natur“. In der Tat war er 1775 im Tempo eines modernen Touristen von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit geeilt. In seinem Tagebuch liest sich das so: „d. 17. (. . .) um 1 Uhr N. M. v. Schwiz weg nach dem Rigi. - 2 Uhr aufm Lauerzer See. Hoher herrlicher Sonnenschein. Vor lauter Wollust sah gar nichts (Zwey Maidle fuhren uns) Insel ehemalige Wohnung des Zwingherrn. Jetzt ein Waldbruder (. . .) Rigi bestiegen ½8 bey der Mutter Gottes zum Schnee. 3 Wirtsh. 5 Cap im Closter. im Ochsen. - 18. (. . .) um zwölf nach dem kalten Bad oder drei Schwestern Brunn dann die Höhe ¼3 Uhr in Wolcken und Nebel rings die Herrlichkeit der Welt. - (. . .) 19. früh ½7 aufwärts dann hinab nach Gersau zu Mittag im Wirtsh. am See. gegen zwey dem Grüdli über wo die 3 Tellen schwuren drauf an der Tellen Platte wo Tell aussprang. Drauf 3 Uhr in Flüely wo er eingeschifft wird. 4 Uhr in Altdorf wo er den Apfel abschoss. - ½7 nach dem Steeg. Fische gebachen geschmackt gebadet im Schnee Wasser..."

Alle Mythen – alte, zu schier ewiger Wahrheit geronnene Geschichten, die einen realen Kern haben mögen oder auch nicht – beglaubigen ihre Wahrheit durch präzise Angaben. Ödipus ist nicht irgendwo, sondern in Theben, in Delphi, in Korinth, in Kolonos am Ende. Die Odyssee, eine Erfindung historischer Ereignisse, beglaubigt deren Wahrheit durch unzählige Ortsangaben, von Troja bis endlich zum Strand von Ithaka. Und auch Gottfried von Straßburgs deutsche Version der Geschichte von Tristan und Isolde, der Prototyp leidenschaftlich tragischer Liebe, hebt mit einer Ortsangabe an: „Ein hêrre in Parmenie was“ – was die folgende Erzählung auch dann wirklichkeitsnäher machte, wenn die Leser (oder eher Zuhörer) keine Ahnung hatten, wo dieses Parmenien denn lag.

Auch Friedrich Schiller beglaubigt seine Erfindung des Schweizer Freiheitskampfs durch eine geradezu aufdringlich exakte Topographie. Hundertfünfzig geographische Angaben gibt es – ich habe die Berge und Seen nicht mitgezählt, und nur eine Szene, die letzte nämlich (nun hat es selbst der Dümmste begriffen), kommt ohne die Versicherung eines wirklich existierenden Orts aus. Das sind im Durchschnitt zehn Ortsangaben pro Szene, und einige Szenen sind regelrechte Trommelfeuer der Topographie. Am deutlichsten jene, wo Walter Fürst, Arnold von Melchthal und Stauffacher zum ersten Mal erwägen, ihre Kräfte – das heißt die von Uri, Schwyz und Unterwalden – zusammenzutun und einen gewaltsamen Aufstand des Volks zu befördern. Wenn man eine Hit-Liste der im Text erwähnten Orte erstellt, schwingt Altdorf mit vierzehn Nennungen obenauf, gefolgt von Küssnacht, das zehnmal vorkommt. Das Rütli wird siebenmal genannt, Sarnen sechsmal, Bürglen, Brunnen und, etwas überraschend in diesem Zusammenhang, Zürich je dreimal. Es folgt eine Kaskade von Orten, die nur ein- oder zweimal auftreten dürfen.

Schiller muss mit dem Vergnügen eines Kopfreisenden auf seine Karte geblickt und sich immer neue geeignete Orte herausgepickt haben. Er macht keine Fehler. Keine Angaben, die sich widersprechen. Die Wege wären abschreitbar. Am meisten mutet er allerdings seinem Tell zu, der von der Tellsplatte – bei Gewitter und Sturm, jeder Kundige weiß, welche Wasserfluten da die Berghänge hinunterrauschen – die jähen, nahezu lotrechten Abhänge des Axen hinauf muss und dann, rauf und runter durch den weglosen Bergurwald von damals nach Küssnacht eilt, um Gessler zu erwischen. (Seltsamerweise nimmt er nicht an, dass der, obwohl er ihn doch hilflos in den tosenden See zurückgestoßen hat, mit seinen Männern und Mäusen absäuft.) Das ist auf der heutigen Küstenstraße ein Weg von 38 Kilometern. Tell hatte dazu ich weiß nicht wie viele hundert Höhenmeter zu gehen: eine Triathlon-Leistung.

Diese Verankerung aber in einer konkreten Landschaft macht die idealische Geschichte glaubhaft, und wir Schweizer haben das Angebot dankbar aufgegriffen, unsere etwas diffuse Ursprungsgeschichte so konkret und heldisch gemacht zu sehen. Schiller dachte allerdings nur auf einer ersten Ebene an die Schweiz. Er zielte auf sein Land, nicht auf uns. Auch er wusste, dass seine Helden, Tell allen voran, nie gelebt hatten, und so schon gar nicht. Er nennt die Geschichte vom Apfelschuss „ein Märchen“. Dieses Märchen, eine halbwegs ähnlich erzählte Gründungsgeschichte, war denn auch vor Schiller manchen Schweizern geläufig: seit dem „Weißen Buch von Sarnen“ (um 1470) und später vor allem den „Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft“ Johannes von Müllers, dem Schiller – so etwas wie ein Witz, und Schiller ist selten witzig – eine Rose aufs Grab legt, indem er den Boten, der den Mord an Kaiser Albrecht meldet, Johannes Müller nennt. (Der Kaiser starb übrigens 1308; deshalb auch steht dieses Datum auf dem Sockel des Tell-Denkmals in Altdorf.)

Ich weiß nicht, ob heute noch irgendjemand in der Schweiz wirklich glaubt, Tell habe gelebt und die Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft habe sich so abgespielt. Ich glaube es eigentlich nicht. Schon Joseph Eutych Kopp hat – tief im 19. Jahrhundert – mit dem Tell-Mythos gründlich aufgeräumt (er wurde zur Strafe in effigie auf dem Rütli verbrannt), und in unserer Zeit hat Otto Marchi 1971 in seinem äußerst anregenden Buch „Schweizer Geschichte für Ketzer“ den Mythos in seine Einzelteile zerlegt. Aber die Leistung Schillers, die Existenz und die Taten Tells und all der andern mit Hilfe der wirklichen Landschaft wirklich zu machen, war und bleibt so erfolgreich, dass in den meisten Köpfen beide Versionen – Mythos und aufgeklärtes Wissen – ziemlich konfliktfrei miteinander leben. Tell lebt. Warum auch nicht?

Es bleibt dabei, dass unser Land, als einziges weit und breit, einen Gründungsmythos feiert, der auf einem Attentat beruht. Die Ermordung eines Mächtigen aus dem Hinterhalt löst einen Volksaufstand aus: ein Muster, das wir anderswo nicht unbedingt billigen. Hier jedoch sind wir stolz auf unsern Tell.

Tom Stoppard hat vor 40 Jahren ein zauberhaftes Stück geschrieben („Rosencrantz and Guildenstern are dead“), das eine Art „Hamlet“ von hinten her gesehen ist. Das heißt, das Stück bleibt ausschließlich bei den beiden nicht ganz astreinen Freunden Hamlets, die der Titel nennt, in der Sprache Stoppards, und wird nur dann zu Shakespeares vertrautem Text, wenn Hamlet mit diesen zusammentrifft. Nicht allzu oft also. So wird klar, dass Rosenkranz und Güldenstern nicht im Geringsten draufkommen können, was in der Welt um sie herum (das heißt im Stück „Hamlet“) vor sich geht. Niemand sagt ihnen was, und es kümmert sie auch nicht.

Ein ähnliches Stück könnte einer mit dem „Wilhelm Tell“ schreiben: eines, das ausschließlich bei Tell bliebe. Es würde deutlich, dass Tell nie dabei ist, wenn es um die Wurst geht, um politische Entscheidungen, und dass er recht eigentlich blind ist für das, was geplant und gehandelt wird – und was er durch sein eigenes Handeln auslöst. Unser nationales Idol ist eine Art Desperado, der einzig und allein sein eigenes Recht gelten lässt. (Jan Philipp Reemtsma verglich ihn in einem prachtvollen Essay mit einem amerikanischen Western-Helden. Tell als helvetischer John Wayne.)

Ein Auftrag, das Stück zu inszenieren, würde mich heftig ins Schleudern bringen. Klar ist nur, dass eine Inszenierung vom Blatt, sozusagen im Maßstab 1:1, unmöglich geworden ist. Versuchte ich eine Art pathetischen Comic-Strip, eine Form, die einerseits das ungeheuer Theaterhafte und eben auch längst unfreiwillig Komische ins Extrem triebe, aber das wahrhaftig-leidenschaftliche Sehnen nach der Freiheit der Völker ernst nähme? Eins nur weiß ich sicher: Ich würde das Wetter – die Wetter – im Stück wortgenau inszenieren. Die von Schiller geforderten Stürme, Wasser und Blitze müssten genau so über die Bühne fegen. Ein Wind, gegen den keiner ankäme und der mehr als die edlen Bärte fliegen ließe. Wasser, dass alle tröffen. Mondlicht dann endlich, aus einem herrlich großen Mond.

Rütli. Kühl, verhaltene Sonne. Das Rütli ist eine nicht allzu große, geneigte oder gewellte Wiese, so hoch über dem See, dass wir ihn weit überblicken, bis hin zu den grauen Steilwänden des gegenüberliegenden Ufers. Ein Dutzend Kühe bimmeln. Ein einziges altes Bauerngebäude, der Stall wohl. Keinerlei Devotionalien, keine Inschriften, auch keine Besucher, wenn wir von ein paar Soldaten absehen, von denen nicht klar ist, ob sie einen vaterländischen Ausflug machen oder hier Dienst tun. Draußen auf dem See zieht ein Schiff vorbei, so etwas wie ein Nachen. Keiner mit einer Armbrust im Heck, soweit wir das von hier aus erkennen können.

Urs Widmer, geb. 1938, lebt als Erzähler und Dramatiker in Zürich. Soeben erschien sein neuer Roman „Das Buch des Vaters“.

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