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Grazie ist Disziplin. Saraha Nevada Grether als Balletttänzerin Nadja.

© Brave New York

Im Kino: Isabelle Stevers "Grand Jeté": Mein Körper gehört nicht mir

Tabubruch und Annäherung: Isabelle Stevers verstörendes Mutter-Sohn-Drama "Grand Jeté"

Verwachsene Knöchel, blutige Füße, verspannte Schultern. Muskeln spielen am Nacken, Haut spannt sich über den Sehnen, es sieht nach Schmerz aus, nach jahrelangen Torturen. Am Hals leuchten vernarbte Ekzeme. Nadja (Sarah Nevada Grether) war Ballerina, sie hat ihren Körper geschunden.

Jetzt kann sie kaum noch laufen, nimmt starke Tabletten und trainiert in Berlin junge Mädchen. Beim Grand Jeté, erklärt sie die klassische Ballettfigur, steht ihr eine Sekunde in der Luft, nichts ist hinter euch, nichts ist vor euch. Der Spagatsprung schlechthin, absolute Freiheit, ultimative Kontrolle.

Die Regisseurin Isabelle Stever zeigt in „Grand Jeté“ eine derart obsessive, bestürzende Körperlichkeit, dass es ein Schock ist. Faszination und Verstörung fallen in eins angesichts dieser Frau, die sich quält und eine eigentümliche Lust daran hat. Der eigene Körper, sagt die 59-jährige Filmemacherin, ist das, was wir kontrollieren und dem wir doch ausgeliefert sind. Stever wurde mit der Dreiecksgeschichte „Gisela“ (2006) und dem Entwicklungshelfer-Drama „Das Wetter in geschlossenen Räumen“ (2016) bekannt, auch formal sehr eigensinnigen Werken.

Als „Grand Jeté“ dieses Jahr im Berlinale-Panorama Weltpremiere feierte, polarisierte er das Publikum. Weil er jene künstlerische Stringenz an den Tag legt, die man im Hauptprogramm des Festivals vergeblich suchte, und wegen des Tabubruchs. Bei einer Feier in der Kleinstadt bei ihrer Mutter Hanne (Susanne Bredehöft) trifft Nadja ihren Sohn Mario (Emil von Schönfels). Mario ist bei der Großmutter aufgewachsen, damit die Mutter arbeiten kann, die beiden kennen sich kaum. Aber sie erkennen einander sofort, als Seelenverwandte.

Auch Mario nimmt meist Säfte und Energydrinks zu sich, auch er trainiert seinen Körper, als Aushilfskraft im Fitnessstudio und beim Wettbewerb im Nachtclub, bei dem er seinen Penis mit Zehn- Kilo-Gewichten behängt. Nur dass er sich nicht schindet, sondern sich ausprobiert, mit seinen Kräften und seinem Body spielt. Wie mit der Sonnenbrille, die er an der Tankstelle kauft. Mutter und Sohn: Stever zeigt das Begehren, zeigt Sex, Inzest, Schwangerschaft, eine Geburt.

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Hat sich da was geändert in mir drin?, will Nadja von Mario wissen. Eine ungeheuerliche Frage in einem Film, der eine moralische Grenze überschreitet, der den Inzest unmissverständlich andeutet, aber nicht urteilt, nicht verurteilt. Mit fragmentierten Bildern, schiefen Blickwinkeln und einem Licht, das die Gliedmaßen wie Fremdkörper modelliert, legt die Kamera von Constantin Campeau Zeugnis davon ab, wie sehr auch Scheu und Befremden im Spiel sind. Die geringe Tiefenschärfe sorgt außerdem dafür, dass der Fokus auf Nadja gerichtet bleibt. Das kantige Profil, die großen Augen, ihre meist stumme Anwesenheit etwa bei Hannes Geburtstag (bei dem Jule Böwe und der langjährige Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann als Nebenfiguren trinken und tanzen) erscheinen vor verwischtem Hintergrund.

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Die Intensität dieses Porträts einer Schmerzensfrau rührt vielleicht auch daher, dass die aus den USA stammende Darstellerin Sarah Nevada Grether selbst lange Mitglied des Stuttgarter Balletts war, bevor sie mit dem Tanzen aufhörte. Sie kennt die Härte gegenüber sich selbst, die Essstörungen, die Qual. Das Drehbuch von Anna Melikova basiert auf dem Roman „Fürsorge“ von Anke Stelling, die auf Stevers Wunsch ein Treatment von Franziska Petri ausgearbeitet hatte. „Fürsorge“ integriert in Gestalt einer konsternierten Erzählerin so etwas wie eine moralische Instanz. Eine allerdings brüchige Instanz, aus deren Perspektive die verbotene Liebe von Nadja und Mario geschildert wird. Im Film ist die Figur gestrichen, das Konsternierte hingegen bleibt. Schon wegen der aus dem Lot gerückten Szenen und der elliptischen Erzählweise. <SB320,100,230>Wenn Nadja ein Taxi zu Mario nimmt, auf einmal hat sie es eilig, sieht man nur das leuchtende Schild auf dem Autodach. Wenn sie sich kurz zu ihrer Mutter ins Bett legt und sie „Miezekatze“ spielen wie damals in Nadjas Kindheit, genügt das, um zu zeigen was die Tänzerin verloren, aber nicht vollständig vergessen hat: Dass man sich auch wohlfühlen kann in seiner Haut.

[Grand Jeté" ist ab Donnerstag in sieben Berliner Kinos zu sehen: Brotfabrik-Kino, Filmrauschpalast (OmenglU), Freiluftkino Kreuzberg, Hackesche Höfe (OmenglU, Moviemento (OmenglU), Wolf (OmenglU)]

Auch die Mutter ist nicht gesund. „Mein Herz, deine Haut, deine Knochen, wir bekommen alle, was wir verdienen“, sagt sie und erkundigt sich besorgt, ob Nadja veilleicht einen Gehstock braucht oder eine Gelenk-Operation. „Grand Jeté“ ist auch ein Film über Mutterschaft, über die Sehnsucht, die Erotik, die Erschöpfung, das Unvermögen von Müttern. Über das Tabu-Phänomen des Begehrens, das ja auch dem Missbrauch und der sexualisierten Gewalt in der Familie zugrunde liegt. Und über den Versuch einer Selbstheilung, so monströs er sein mag. Nadja fängt wieder zu essen an, holt beim Bäcker Croissants, als Mario zu ihr nach Berlin zieht.

Nein, das will ich nicht sehen, denkt manch einer, manch eine vielleicht. Auch das vermag Kunst, meint Isabelle Stever, „für das, was ich nicht verstehe, eine Sprache zu finden“. Es lohnt sich, einer Frau wie Nadja nahe zu kommen, so nahe, wie irgend möglich.

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