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Anaïs Mitchell.

© promo

Im Land der Winde und der Wölfe: Songwriterin Anaïs Mitchell präsentiert neues Album „Young Man in America“

Anaïs Mitchell verbindet Einfachheit und Weite. Ihr Album „Young Man in America“ lebt von liedhaften Strukturen und Refrains. Doch zugleich entwirft es Klanglandschaften von abgründigem Reiz.

Von Gregor Dotzauer

Sie haben jetzt oft so kleine Stimmen. Schrille, in den Höhen gefährlich flackernde Organe, die man eher Kindern zuschreiben würde als selbstbewussten jungen Frauen. Joanna Newsoms waldfeenhaftes Kreischen, Ane Bruns zerbrechliche Düsternis, Marit Larsens poppiger Frohsinn oder Silje Nergaards jazzerprobte Biegsamkeit – bis auf die chartstaugliche Powerhymne ist kein Genre mehr vor ihnen sicher. Auch Anaïs Mitchells scharfe Färbung ist erst einmal gewöhnungsbedürftig. In ihrer Stachligkeit geht sie einem durch Mark und Bein, bevor man sich einer Sängerin anvertraut, die sicher phrasierend alle Chorsätze anführt und zwischen verhaltenem Pathos und dramatischem Überschwang viele Schattierungen kennt.

Wo das herkommt, was die 1981 geborene Amerikanerin Anaïs Mitchell seit zehn Jahren und fünf Alben macht, lässt sich mit einem Wort sagen: Folk. Die elf, an einem einzigen langen Nachmittag aufgenommenen Songs von „The Song They Sang ... When Rome Fell“, mit denen sie 2002 debütierte, waren noch Talentproben. „Hymns for the Exiled“, zwei Jahre später von Michael Chorney produziert, war dann schon das Dokument einer schnell erwachsen gewordenen Musikerin, die gegen die Ära von George W. Bush ansang. Wohin es mittlerweile unterwegs ist, lässt sich viel schwerer sagen. „Young Man in America“, ihr jüngstes Album, mit dem sie gerade auf Deutschlandtournee ist, lebt wie eh und je von liedhaften Strukturen und Refrains. Doch zugleich entwirft es Klanglandschaften von abgründigem Reiz. Anaïs Mitchell verbindet in seltener Weise Einfachheit und Weite.

Zum Beispiel „Wilderland“, das Entree in ein ebenso gegenwärtiges wie in mythologischer Ewigkeit stillgestelltes Amerika, durch das die Winde und die Wölfe heulen. Drei Minuten Beschwörungskunst über einem einzigen, in unerbittlicher Regelmäßigkeit niederfahrendem Grundakkord, aus dem sich die alles definierende elektrische Gitarre vergeblich zu lösen versucht, festgestampft von einer dumpfen Bass-Tom und umflirrt von einer irrlichternden Querflöte und den Schabegeräuschen einer Geige. Harmonische Erlösung bietet erst das die Motive der Ouvertüre aufnehmende Titelstück – und dann ist man mit „Coming Down“ schon wieder bei einer Zitterballade, die man noch inniger nur noch als Coverversion auf Youtube bei ihrem Musikerfreund Justin Vernon, dem Sänger von Bon Iver, findet.

„Young Man in America“ ist ein Zyklus um Ankunft und Aufbruch, Geburt und Tod, Eltern und Kinder, Erwartung und Erfüllung, bei dem Anaïs Mitchell sich in die verschiedensten – auch männlichen – Rollen begibt. Anders als beim Vorgänger, dem nicht nur durch seine sechs Gesangsrollen opernhafte Züge tragenden „Hadestown“, einer zeitgenössischen Orpheus-und-Eurydike-Version, bleibt der Zusammenhang assoziativ, und es lohnt auch nicht, die einzelnen Mikrokosmen auszudeuten. Mitchells Stärken liegen weniger im Textlichen als im Atmosphärischen – Stärken, die sie auch allein mit ihrer Gitarre unter Beweis stellen kann, die in den Arrangements von Todd Sickafoose aber erst so richtig aufblühen.

Alles ist handgemacht, mundgeblasen und schimmert in höchsterTransparenz. Jeder Stahlsaitenton funkelt in orchestralem Silber, hier stiehlt sich eine Mandoline dazu, dort ein Akkordeon und dort ein Bläsersatz mit Klarinette. Der Kontrabassist Sickafoose, der unter anderem bei Charlie Haden studiert hat, vollbringt ein kammermusikalisches Zauberwerk, das Mitchells Material doch nur veredelt. Nach den aufwendig arrangierten Charakterstücken von „Hadestown“, in denen Justin Vernon den Orpheus sang, Ani di Franco die Persephone und Greg Brown, als wäre er Tom Waits’ Bruder, mit knarrendem Bariton den Hades, wirkt „Young Man in America“ erst einmal klein. Doch in der Sparsamkeit entfalten sich das Bedrohliche von „Dyin’ Day“, die Melancholie von „Tailor“ oder die sechseinhalbminütige Unendlichkeit der Hafenszene „Ships“ mit ähnlicher Intensität.

Zu den musikalischen Urerlebnissen der in Vermont lebenden Musikerin gehören Tori Amos und Ani di Franco. Di Franco verpflichtete sie mit „The Brightness“ schließlich auch für ihr Label Righteous Babe, bevor sich Mitchell nun mit Wilderland Records selbstständig gemacht hat. Ihrer wichtigsten Prägung zollt sie nun aber mit dem Cover Tribut. Der junge Mann, der einem entgegenschaut, ist ihr Vater Don Mitchell, ein Schafezüchter und Schriftsteller („The Nature Notebooks“), der bis vor drei Jahren am Vermonter Middlebury College kreatives Schreiben lehrte.

Anaïs Mitchell: Young Man in America (Wilderland Records). Mitchell und Band treten am morgigen Donnerstag um 21 Uhr im Berliner Comet Club auf.

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