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Kultur: Im Schatten keiner Türme

Als die Wirklichkeit die Fiktion überholte: US-Comics versuchen, die Verletzungen der amerikanischen Seele zu kurieren

Von Christian Schröder

Bislang waren sie auch mit den übelsten Schurken immer fertig geworden. Sie hatten Mega-Gangster wie den Joker, Lex Luthor oder den Green Goblin besiegt und die Welt hunderte Male vor Außerirdischen gerettet, ja selbst Hitler hatten sie verprügelt. Sie waren Superhelden, als Nachfahren der antiken Götter hinabgestiegen vom Olymp, und nichts auf Erden schien ihren übernatürlichen Kräften trotzen zu können. „Schneller als eine Pistolenkugel! Stärker als eine Lokomotive! Mit einem Sprung hüpft er auf die höchsten Gebäude! Schaut in den Himmel! Ist es ein Vogel? Ein Flugzeug? Nein, es ist Superman!“, hatte eine Sprechblase posaunt, als der Erste von ihnen 1938 den Kampf gegen das Böse aufnahm.

Aber so etwas wie der 11. September, nein das überstieg selbst für die Superhelden die Grenzen der Imagination. „Wo wart ihr? Wie konntet ihr das zulassen?“, brüllten zwei dem Fiasko entfliehende Passanten Spiderman zu, der direkt vor dem einstürzenden World Trade Center gelandet war. Und dann tat Spiderman etwas, was einem Superhelden normalerweise nie passiert: Er stammelte. „Ich – wie sagt man: Keiner konnte sich so etwas – vorstellen.“ Dann verschwand der Übermensch im Trümmerstaub.

So beginnt ein Sonderheft, mit dem die „Spiderman“-Schöpfer schon wenige Wochen nach dem Anschlag auf den Terror reagierten (Marvel, siehe auch Seite 29). Wie tief das amerikanische Selbstvertrauen durch die Attacken von New York und Washington erschüttert worden ist, das illustriert die Hilflosigkeit der Comic-Heroen vielleicht am besten. Thor, Hulk und die Fantastischen Vier, ansonsten ausgesprochene Einzelgänger, reihten sich klaglos bei den Helfern ein, die am Ground Zero Opfer bargen und Trümmer wegräumten. Die Botschaft war klar: „Wir sind bei euch“ – egal, ob in den Schuttbergen von Süd-Manhattan oder an Bord der Flugzeugträger, die nun zum Krieg gegen den Terror in See stachen. Die Wirklichkeit hatte die Fiktion in den Schatten gestellt, deshalb traten die Supermänner und -frauen jetzt gegenüber den Heroen aus dem tatsächlichen Leben zurück. Feuerwehrmänner, Krankenschwestern und Polizisten waren die Superhelden der Stunden, ihnen erwiesen die US-Comiczeichner mit Benefiz-Anthologien ihre Referenz, die „Heroes“ (Marvel) oder schlicht „9-11“ (DC Comics) hießen. Auf den Punkt gebracht wurde der United-we-stand-Zeitgeist von einem Titelbild des Illustrators Alex Ross (siehe nebenstehende Seite). Es zeigt Superman, der ein Plakat mit den überlebensgroßen Ground Zero-Helfern anstaunt: „Wow“ (siehe nebenan). Und Stan Lee, der 79-jährige „Spiderman“-Erfinder, verfasste gar ein patriotisches Gedicht: „Es war ein Tag, an dem die Freiheit ihr Herz verlor – und die Stärke ihrer Seele entdeckte.“ Darunter malte er Captain America, der mit einem zerschlissenen Sternenbanner Wacht hält.

Der Einbruch der Realwelt in die Sprechblasensphäre ist eine Tendenz der Comics zum 11. September, eine andere der Hang zum autobiografischen Schreiben. In „9-11 Emergency Relief“, dem interessantesten Comic zur Katastrophe (Alternative Comics), schildern fünf Dutzend Independent-Autoren, wie sie das Desaster erlebten. Jim Harrison wird von der Nachricht des Angriffs auf die Twin Towers an seinem Schreibtisch überrascht, an dem er sich zu einer Mondexpedition hinweggeträumt hatte. „Plötzlich wurde mir klar, dass meine Generation beides erlebt hat: den größten menschlichen Triumph und die größte menschliche Verzweiflung“. Und Will Eisner, 85-jähriger Sci-Fi-Altmeister, porträtiert sich selbst vor dem Fernseher, aus dem Blut tropft.

Das Pathos der 9-11-Comics ist für europäische Betrachter nur schwer erträglich, etliche Bildgeschichten kommen im heroischen Stil des Sozialistischen Realismus daher. Immerhin ein Zeichner begegnet der Katastrophe mit Humor: Art Spiegelman, dessen Serie „Im Schatten keiner Türme“ in der „Zeit“ erscheint. „In unserer letzten Folge, wie Sie sich vielleicht erinnern, endete die Welt“, so begann sein Cartoon, um dann zu zeigen, wie es doch weiter geht: mit vielen kleinen absurd-tragischen Strips.

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