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Kultur: Im Sperrholzstadion der Unterwelt

Schluchzen und Jauchzen: Joachim Schlömer inszeniert Monteverdis „Orfeo“ in Stuttgart

Am Ende, nachdem der ekstatische Chorjubel über die Vergöttlichung des mythischen Sängers schon verklungen ist, setzt sich Frau Musica noch einmal allein ganz nach vorn. Während die hölzernen Spielplattformen der Bühne sich langsam schließen wie die Deckel eines alten Märchenbuchs, öffnet sie ihren alten Fünfziger-Jahre-Kofferplattenspieler, legt eine Platte auf und lauscht dem durch Knacksen und Rauschen nostalgisch verklärten Nachklang von Monteverdis „Orfeo“. Und wird es vermutlich bis in alle Ewigkeit tun.

Mit diesem poetischen „Und wenn er nicht gestorben ist“-Bild schließt Joachim Schlömer seine Inszenierung und damit auch den Monteverdi-Zyklus der Stuttgarter Oper. Ein schönes Bild, das jeden Theaterkalender schmücken würde, aber auch eines, das deutlich zeigt, worauf es Schlömer ankommt – und worauf eben nicht.

Der gefeierte Choreograf, der sich an den Opernhäusern von Stuttgart und Basel Stück für Stück zum Opernregisseur entwickelt, denkt in Bildern und Bewegungen, weniger in Konzepten. Seine Sicht auf die erste aller Opern ist die des Märchenerzählers, die Geschichte, die er erzählt, ist vielleicht vierhundert Jahre, vielleicht vierhundert Tage alt – festlegen lassen auf irgendwelche gesellschaftliche oder stoffliche Verbindlichkeit will sich Schlömer nicht: Die Hirten und Nymphen, die auf ihrer Grillparty in einer scheinbaren Endlosschleife von Tänzen und Gesängen die Vermählung von Orfeo und Eurydice feiern, erinnern in ihren Badelatschen und Unterhemden einerseits an die immerfröhlichen Bacardi-People, behaupten zugleich jedoch mit ihren neckischen weißen Röckchen (Ausstattung: Katrin Brack) ebenso ein Stück weit Antike. Hier, im pastoralen Idyll eines Sperrholzstadions, kann Schlömer seine choreografische Fantasie ausspielen, erfindet kleine amouröse Geschichten, deutet Beziehungen an, lässt die ganze Truppe zum Videoclip-reifen Squaredance antreten.

Was jedoch diesen Orfeo (unerschütterlich proper und tadellos stilsicher: Kobie van Rensburg), der hier den Cliquenboss gibt, eigentlich zur schicksalstauglichen Figur macht, verrät Schlömer, bei aller später entfesselten Bildkraft seines Schattenreichs, nicht. Anders als etwa Christoph Loy, der für die Deutsche Oper am Rhein am derzeit wohl aufregendsten Monteverdi-Zyklus feilt, bleibt der Opernchoreograf Schlömer gegenüber der Macht von Orfeos Gesang, die Himmel und Hölle bewegt, seltsam taub.

Und das bis zum Schluss: Dass es gerade die Musik ist, die dem im Leben Gescheiterten einen Ausweg bietet, dass, ähnlich wie fast zweihundert Jahre später in der Operngeschichte bei Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, gerade das Leiden der Preis der Kunst ist – diese eigentlich zentrale Aussage des Stücks bleibt in Stuttgart auf der Strecke. Apoll, der dem hadernden Orfeo schließlich diesen Ausweg zeigt, sieht mit seinem schwarzen Ganzkörpertrikot aus wie eine Figur aus einem alten amerikanischen Scifi-Movie, wenn er mit seinem Schützling duettierend gen Schnürboden entschwebt, wirkt das zwar wiederum spektakulär, bleibt aber in seiner Suggestionswirkung unbestimmt.

Der Monteverdi-Zyklus, wird Stuttgarts Intendant Klaus Zehelein später auf der Premierenfeier erklären, sei für sein Haus eigentlich abseits des normalen Repertoires. Wahr ist für alle großen Opernhäuser allerdings eher das Gegenteil: Fast alle Bühnen haben diese Werktrias am Anfang der Operngeschichte mittlerweile als unverzichtbares Musiktheaterterrain anerkannt – im Bereich der Alten Musik hat die Dreieinigkeit aus „Orfeo“, „Poppea“ und „Ulisse“ nahezu den Status eines Gegen-„Rings“ gewonnen. Auch weil die Bühnen inzwischen ihre Angst abgelegt haben, in diesem Repertoire nicht konkurrenzfähig sein zu können. Die epochale, ein Vierteljahrhundert alte Zürcher Monteverdi-Wiedererweckung Nikolaus Harnoncourts wirkte vermutlich sogar kontraproduktiv – als (auch aus reinen Kostengründen) ohnehin nicht erreichbares Originalklang-Ideal. Inzwischen hat sich freilich der pragmatischere, etwa durch Ivor Boltons Münchner Barockserien gewiesene Weg musikalischer Aufführungspraxis durchgesetzt: Im Orchestergraben sitzen diejenigen unter den regulären Orchestermusikern, die dieses Repertoire als Herausforderung begreifen, erweitert durch einige Barockinstrumentalisten, und für die stilgerechte Einstudierung bürgt ein Spezialist aus der Alte-Musik-Szene.

In Stuttgart sorgt Jean-Claude Malgoire dafür, dass die sängerische Artikulation im Zentrum der Musik steht. Anders als beispielsweise René Jacobs, der seinem Monteverdi ein Höchstmaß instrumentaler Barockpracht und Vielfalt verleiht (und das zum Glück bald mit der „Poppea“ an Berlins Staatsoper tun darf), setzt Malgoire auf entspannt pulsierende Tempi und einen warmen, streicherbetonten Klang, der die Stimmen trägt. Dem makellos madrigaliserenden Stuttgarter Opernchor und den zahlreichen Solisten bekommt das bestens – Monteverdis expressives Verzierungsvokabular mit seinen Schluchzern und Jauchzern klingt tatsächlich, als sei es den Sängern in Fleisch und Blut übergegangen.

Musikalisch gelingt der Nachweis der stilistischen Konkurrenzfähigkeit gegenüber reinen Spezialistenensembles nahezu abstrichlos. Die Stuttgarter Aufführung zeigt so nicht zuletzt, dass an den Stadttheatern eine Generation von Musikern herangewachsen ist, die mit historisierender Klangsprache weit selbstverständlicher umgehen als es noch vor zwanzig Jahren der Fall war.

Und Frau Musica könnte ihre alte Monteverdi-Platte eigentlich ruhig beiseite legen. Und lieber in die Oper gehen.

Termine: am 12., 14., 16., 20.und 23. November und am 4. Dezember in der Stuttgarter Oper

Jörg Königsdorf

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