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Ob das was wird? In Berlin wirbt der Verfassungsschutz mit starken Sprüchen um Nachwuchs.

© dpa/Kay Nietfeld

Im Zwielicht: Ronen Steinke über den Verfassungsschutz als politische Institution

Seit dem NSU-Skandal fordern Linke und Grüne, den Verfassungsschutz abzuschaffen. Was bei der Behörde schiefläuft, hat der Journalist Ronen Steinke nun untersucht.

Von Jan Schroeder

Am 6. April 2006 wird der 21-jährige Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel aus nächster Nähe vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) erschossen. Zur Tatzeit sitzt V-Mann Andreas Temme nur wenige Meter entfernt im selben Raum. Er habe nichts gesehen, nichts gehört und den verblutenden Halit beim Verlassen des Cafés nicht bemerkt, gibt der ehemalige Verfassungsschützer in Vernehmungen an. Später kommt durch die Telefonüberwachung der Polizei heraus: Temme wusste bis ins Detail von den Mordplänen. Dennoch schützen seine Vorgesetzten und der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier den in seinem Heimatdorf als Jugendlicher unter dem Spitznamen „Klein Adolf“ bekannten Temme. Ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wird eingestellt. Der Fall ist vielleicht der bösartigste Skandal des Verfassungsschutzes – der einzige ist es nicht.

In seinem Buch „Verfassungsschutz: Wie der Geheimdienst Politik macht“ hat der Journalist Ronen Steinke die Behörde einer grundsätzlichen Prüfung unterworfen. Er führt die Fäden der bisherigen Kritik an der Behörde zusammen, verbindet die Verstrickungen in der NSU-Mordserie mit der rechtslastigen Geschichte des Verfassungsschutzes, für den bis in die Achtzigerjahre etliche ehemalige Nazis arbeiteten und seziert den Fall des ehemaligen Behörden-Chefs Hans-Georg Maaßen.

Anschauliche Exkurse

Obwohl Steinke insgesamt sechs Jahre für das Buch recherchiert hat, mit V-Leuten sprach und getarnte Büros besichtigte, setzt er nur am Rande auf die Mittel einer investigativen Recherche. „Verfassungsschutz“ liest sich eher wie eine mit anschaulichen Exkursen gespickte demokratietheoretische Analyse. Trotz scharfer Kritik bemüht sich der studierte Jurist um Ausgewogenheit und nimmt die Mehrheit der Verfassungsschützer vor pauschalen Urteilen in Schutz. Fälle wie die des V-Mann Temme seien niemandem so unangenehm wie den Verfassungsschützern selbst, versichert Steinke. Jedoch können die besten Absichten der Mehrheit der Verfassungsschützer nicht beheben, woran die Struktur krankt, so der Grundtenor des Buchs.

Was der Verfassungsschutz genau macht, wissen die wenigsten. Fast scheint es, schon der Name Bundesamt für Verfassungsschutz solle genau dem großspurigen Image entgegenwirken, das Geheimdienste in anderen Ländern sonst pflegen. Im Gegensatz zum FBI oder dem britischen MI5 darf der deutsche Geheimdienst lediglich Informationen sammeln. Der Rest ist Aufgabe der Polizei.

Dennoch zeichne sich der deutsche Verfassungsschutz durch eine Eigenart aus, die Steinke für alles andere als demokratisch hält: Er sei ein politischer „Regierungsgeheimdienst“, keine unabhängige Instanz. Obwohl Inlandsgeheimdienste in anderen Ländern oftmals auf ähnliche Weise kritisiert werden, erscheint es im internationalen Vergleich tatsächlich seltsam, mit welcher Selbstverständlichkeit sich führende Beamte des Verfassungsschutzes in Deutschland parteipolitisch engagieren und umgekehrt als „politische Beamte“ gelten, die jederzeit durch das zuständige Innenministerium in den Ruhestand versetzt werden können.

Bayern spioniert anders

Der derzeitige Geheimdienst-Chef Thomas Haldenwang etwa ist, wie sein Vorgänger Maaßen, Mitglied der CDU. Wer als extremistisch gelte und beobachtet werde, sei keineswegs eine Entscheidung nach objektiven Kriterien, sondern werde durch die Regierung bzw. die Innenministerien des Bundes und der Länder beeinflusst, kritisiert Steinke. Der Verfassungsschutz mache Politik, so die im Untertitel angekündigte These. Daher erkläre sich auch, wieso in Bremen unter einer rot-rot-grünen Regierung anders spioniert wird als in Bayern unter Markus Söder.

Wie diese Einflussnahme genau aussieht, belegt Steinke eindrücklich sowohl mit dem Fall der AfD wie mit dem der Linkspartei. In der Öffentlichkeit betonen Innenminister stets, sich nicht aus parteipolitischen Motiven in die Arbeit der Sicherheitsorgane einzumischen. Die Praxis sehe jedoch anders aus, so der Journalist. Als der Verfassungsschutz beispielsweise 2021 eine mehr als 800 Seiten starke Einschätzung der AfD im Innenministerium zur Freigabe vorlegte, war der damalige Innenminister Horst Seehofer mit seinen Fachleuten offenbar nicht zufrieden.

Es ging um Slogans wie „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“. Einen Satz, den Seehofer selbst 2018 in einem Interview mit „Bild“ äußerte. Nach einem Treffen von Seehofers Staatssekretär mit dem Behörden-Chef Haldenwang sei das Papier mehr als einen Monat lang umgeschrieben worden, schreibt Steinke. Geändert wurden dann gerade Passagen zu Positionen, die auch Politiker der Union schon zum Besten gaben.

Eingriffe ohne Gerichtsentscheid

Grundsätzliche Kritik übt das Buch dort, wo Verfassungsschutz und Rechtsstaat kollidieren. „Ich habe nie verstanden, warum polizeiliche Ermittlungen rechtsstaatlich intensivst kontrolliert werden, die des Verfassungsschutzes aber nicht“, zitiert Steinke eine Aussage der Bundesinnenministerin Nancy Faeser in einem Interview mit der „Zeit“ vom Januar 2022. Während die Polizei Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte von Verdächtigen vor einem Richter rechtfertigen muss, kann der Verfassungsschutz das ganz ohne Gerichtsentscheid. Die Kontrolle der Verfassungs-Kontrolleure obliege lediglich einem kleinen Gremium von „Politpensionären“, das sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem Kellerraum trifft.

Der Verfassungsschutz darf im Gegensatz zur Polizei auch Personen und Gruppierungen beobachten, die sich völlig legal verhalten. Das schade der Demokratie, kritisiert Steinke. Doch auch bei illegalen Aktivitäten wäre es aus Sicht des Journalisten besser, die Aufgabe der rechtsstaatlich stärker kontrollierten Arbeit der Polizei zu überlassen. Wie Grüne und Linkspartei fordert Steinke eine Abschaffung des Verfassungsschutzes. Eine liberale Demokratie dürfe sich nicht, so das Plädoyer zum Schluss des Buches, auf höhere Gewalt oder einen Geheimdienst verlassen. Sie lebt vielmehr von einer Zivilgesellschaft, „die auf die Gefährdung von Grundrechten empfindlich reagiert“, schreibt Steinke.

Trotz weitreichender neuer Polizeibefugnisse bis hin zur Präventivgewahrsam – um nur einen Aspekt zu nennen – war von einer solchen Sensibilität in den letzten Jahren nahezu nichts zu spüren. Gerade diese Lethargie der Zivilgesellschaft, die allzu arglos ihre Rechte an den Staat abtritt, spricht allerdings nicht gegen das Buch, sondern macht die darin enthaltene Kritik umso notwendiger.
 

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