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Kultur: Immer liegt irgendwer im Sterben. So wird es bleiben

Die Veröffentlichung seines ersten eigenen Lyrikbands liegt inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Karl Krolows "Gedichte" erschienen 1948 im Konstanzer Süd-Verlag.

Die Veröffentlichung seines ersten eigenen Lyrikbands liegt inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Karl Krolows "Gedichte" erschienen 1948 im Konstanzer Süd-Verlag. Da verdiente er seinen Lebensunterhalt schon sechs Jahre lang als Schriftsteller und hatte Dutzende von Gedichten, Rezensionen und Feuilletons veröffentlicht. Karl Krolows Weg zu einem der berühmtesten deutschen Lyriker in den sechziger Jahren - an der Seite von Ingeborg Bachmann, Günter Eich und Hans Magnus Enzensberger - hat also Tradition. Von Anfang an - erst unter dem Einfluß von Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke, dann beeindruckt von der französischen und spanischen Moderne - hat er an seiner eigenen poetischen Welt gebaut, einer Welt in spielerischer Schwebe, in der doch allmählich die Melancholie das Übergewicht gewann - bis hin zur lakonischen Starre mancher späten Gedichte. Es ist erstaunlich, sie zuweilen schon in früheren Arbeiten zu entdecken - ob im hier abgedruckten Gedicht "Lesen" von 1970 oder zehn Jahre später in "Stimmung", wo es heißt: "Immer liegt irgendwer im Sterben. So wird es bleiben." Krolow, am 11. März 1915 in Hannover geboren, studierte in Göttingen und Breslau Germanistik, Romanistik, Kunstgeschichte und Philosophie. Ab 1956, dem Jahr, in dem er den Georg-Büchner-Preis erhielt, wohnte er in Darmstadt, wo er auch über zwei Jahrzehnte ins Präsidium der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung berufen war. Am Montag ist Karl Krolow, der viele Jahre auch regelmäßig für den Tagesspiegel geschrieben hat, nach langer Krankheit in einem Darmstädter Krankenhaus gestorben. Tsp

"Im Gehen": Der Titel eines Prosabuchs von Karl Krolow ist zugleich Wahlspruch, Leitspruch seines Lebens gewesen. Er war stets unterwegs, in frühen Jahren mit dem Rückenwind mittelmeerischer Mythen, später im Gegenwind der schwindenden Zeit. Im Gehen wird ein gehender zu einem vergehenden Menschen, im Schwinden ist schon das Verschwinden eingeschlossen. Karl Krolow erzählt das Flüchtige des Daseins, das Hypothetische der Existenz, indem er mit seiner leichten, schwebenden Sprache dieses Vorbeieilen des Lebens nachzeichnet. Jeder Anflug philosophischer Spekulation oder psychologischer Betrachtung geht spielerisch in den schönen Schein des Gedichts über, der viel weniger trügerisch ist als alle Tatsachen der Wirklichkeit sind.

So ist das Thema "Gehen" gar nicht zur Sprache gekommen, es ist Sprache geworden, im freien Vers und streng gereimt, ausgestattet mit dem Vokabular von der Straße, aus dem Sprachgebrauch der Medien, dem Wortschatz der Jugend: Es reicht in seinem Bedeutungshorizont vom "Plopp" der Kaugummiblase bis zum "Plopp" des letzten Herzschlags und bindet nicht nur das Sprachvermögen seiner durchlebten Generationen, sondern auch die Seinserfahrungen jedes Einzelnen im Rückerinnern und Vorausschauen in einem oft lapidaren und respektlosen Sprechen zusammen.

Krolows Gehen mit dem Kopf besteht nicht aus analytischen Schrittfolgen, ist kein argumentatives Gehen auf Stelzen, sein sinnenfrohes Kopfgehen ist ein stetes Aufwärtsschreiten ins Offene. Indem er sich aufmerksam vergewissert, was die Welt um ihn herum an scheinbar nutzlosem Gerümpel hinschmeißt, akzeptiert er vorwurfslos seinen Weg in der vergehenden Zeit: Vielleicht ist er, wie er es in seinem Gedicht "Lesen" anstrebt, lustvoll auf diese "vollkommene Geschichte ohne Fluchtpunkt" zugegangen und hat in seiner Sterbestunde etwas gefunden, was er zeitlebens gar nicht gesucht hat.

Karl Krolow

Lesen

Ich habe alles Mein Schatten hinter mir wandert langsam von Norden nach Osten. Meine Erinnerung endet am Rande des Buches. Langsam neben mir im Glas trocknet das Wasser. Ohne Vorwurf vergeht die Zeit. Sie ist eine vollkommene Geschichte ohne Fluchtpunkt auf den man zugehen könnte um etwas zu finden.

Aus: Nichts weiter als Leben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1970.

LUDWIG HARIG

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