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Kultur: In den USA als Außenminister missverstanden, in Europa geschätzt - Der dritte Band seiner Erinnerungen

Lange war unklar, ob Henry Kissinger nach zwei bereits erschienenen Memoirenbänden noch einen - angekündigten - dritten wirklich folgen lassen würde. Achtzehn Jahre hat sich der ehemalige US-Außenminister für dieses Projekt Zeit genommen.

Lange war unklar, ob Henry Kissinger nach zwei bereits erschienenen Memoirenbänden noch einen - angekündigten - dritten wirklich folgen lassen würde. Achtzehn Jahre hat sich der ehemalige US-Außenminister für dieses Projekt Zeit genommen. Jetzt liegen die Erinnerungen über seine Zeit unter der Präsidentschaft von Gerald Ford 1974 bis 1976 vor.

Die Selbsteinschätzung der außenpolitischen Leistung ist unmissverständlich: "Dieser Band berichtet von der Zeit, in der Gerald Ford unserer Nation Heilung brachte und sie auf einen Kurs führte, der unter den nachfolgenden Administrationen seinen Höhepunkt, den Sieg im Kalten Krieg, erreichte; dadurch fiel Amerika die führende Rolle bei der Gestaltung der künftigen Welt zu. In den nur 30 Amtsmonaten steuerte Ford die Vereinigten Staaten durch eine Zeit spektakulärer Ereignisse."

In der Tradition Bismarcks

Der Titel "Jahre der Erneuerung" deutet auf Kissingers Absicht hin, seine Amtszeit als Auftakt zur Zeitenwende von 1989/90 zu verstehen: "Als das Breschnew-Regime stagnierte, zeichnete sich der Sieg im Kalten Krieg bereits ab, wenn das damals auch kaum jemand wahrhaben wollte." Doch seine Kritiker werfen Kissinger vor, dass er kein Verständnis für die spezifisch amerikanische Sicht und moralische Begründung der internationalen Politik entwickelt habe. Statt dessen habe er eine unamerikanische Machtbalance-Politik und Geheimdiplomatie im Stile des 19. Jahrhunderts und in der Tradition von Außenminister Metternich und Reichskanzler Bismarck betrieben.

Vergeblich versuchte Kissinger, die USA davon zu überzeugen, dass sie sich im Kalten Krieg und in der Entspannungsphase auf eine lange Auseinandersetzung mit der Sowjetmacht einstellen müssen. Dabei war er optimistischer als seine konservativen Kritiker: "Wir haben von einem Wettbewerb nichts zu fürchten. Nirgendwo auf der Welt und in keinem anderen System leben die Menschen so gut und in so großer Freiheit."

Zweifellos hatten die USA entscheidenden Anteil am Ausgang des Kalten Krieges. Doch ihre Entschlossenheit war nicht vorherbestimmt. Im Gegenteil, zu Recht betont Kissinger den Krisencharakter des Jahres 1975: Im April brach Südvietnam unter dem schnellen Angriff des Nordens zusammen . Die SALT-Gespräche und das Handelsabkommen mit der Sowjetunion scheiterten. Ab August sandte Fidel Castro mehr als 11 000 Soldaten nach Angola. .

Ebenfalls 1975 wurde Kissinger im Zuge des "Halloween-Massakers" (de facto ein demokratischer Vorgang des personellen Austauschs innerhalb der Regierung Ford) auch von seinem Posten als Nationaler Sicherheitsberater abgelöst. Dieser Vorgang war ein Reflex auf Kissingers sinkenden Einfluss innerhalb der Regierung und schwindende Popularität im Land.

Die Krisen des Schicksalsjahres 1975 für die amerikanische Außenpolitik waren stärker hausgemacht, als Kissinger das zugesteht. Die Demokratisierung ehemals autoritärer Staaten in Europa, das Zurückdrängen des Eurokommunismus, die Etablierung des KSZE-Prozesses sowie die Installierung der Weltwirtschaftstreffen gingen auf europäische Initiativen zurück, selbst wenn Kissinger sich bemüht, hier Amerikas, also seine Leistung nachträglich zu vergrößern.

Unamerikanische Umtriebe

Kann man also am Ende der Lektüre von einem außenpolitischen Scheitern Kissingers während der Ford-Jahre sprechen, das er in den Memoiren lediglich zu retuschieren sucht? Dieser Schluss wäre falsch, denn der Außenminister der Präsidenten Nixon und Ford hatte wegen seiner "unamerikanischen außenpolitischen Umtriebe" im Kongress und in der amerikanischen Öffentlichkeit einen schweren Stand, seine pragmatische Außenpolitik innenpolitisch durchzusetzen. Dieser kluge und außerhalb Amerikas so geschätzte Mann musste Watergate und Vietnam ebenso ausbaden wie er den geschrumpften außenpolitischen Handlungsspielraum unter Präsident Ford bestmöglichst zu nutzen versuchte.

Zu keiner Zeit vor und nach Kissinger war die amerikanische Außenpolitik intellektuell so anspruchsvoll formuliert und politisch so differenziert durchgeführt worden. Als Außenminister amtierte er nur wenig mehr als zwei Jahre, aber im Rückblick und im Spiegel seines Wirkens erscheint es uns heute, als ob er eine ganze Epoche geprägt habe. Er hat dabei weniger die Voraussetzungen für die Zeitenwende 1989/90 oder gar für eine neue Epoche gelegt, wie er selbst es sehen möchte. Aber ihm fiel die schwere Aufgabe zu, die USA im schwierigsten Moment ihrer Außenpolitik im 20. Jahrhundert angesichts von politischen Selbstzweifeln und innerer Zerrissenheit handlungsfähig zu halten.Henry Kissinger: Jahre der Erneuerung. Erinnerungen. Bertelsmann Verlag, München 1999. 986 Seiten. 78 DM.

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