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Kultur: In der Kulisse

Am Ende nur Touristen: „Das Venedig Prinzip“.

Das Bild tut weh: Durch den Canale della Giudecca schiebt sich ein weißes Ungeheuer, das den Palazzo Dogana di Mare zu einer Streichholzschachtel schrumpfen lässt. Über 1000 Kreuzfahrtgiganten sind es jedes Jahr, die mitten durch Venedig stampfen – und uralte Fundamente erweichen, nur um den Passagieren den Blick vom Deck hinunter über die Piazza San Marco zu verschaffen. Für den Dokumentarfilmer Andreas Pichler ist diese surreale Szenerie ein Sinnbild, in dem sich „Das Venedig Prinzip“ erkennen lässt.

Die touristische Ausbeutung der Traumstadt hat ihren Zenit noch nicht erreicht; jedes Jahr kommen mehr Menschen, meist nur für einen Tag. Giorgio Gross beobachtet ihr Geschiebe spöttisch: „Wo wollen die nur alle pissen gehen?“ Einst war Gross der berühmteste Gondoliere der Stadt und zeigte amerikanischen Schauspielern, wie man beim Flirten auch elegant rudern kann. Das war, bevor die Massen kamen; das war, als Venedig-Besucher noch mondän waren, Geld hatten und Zeit.

Mit dem Mythos von der untergehenden Stadt lässt sich prächtig Geld machen. 1,5 Milliarden Euro erwirtschaftet der Venedig-Tourismus jedes Jahr, doch die Kommune hat wenig davon. Nur noch 58 000 Einwohner zählt die Stadt, immer mehr ziehen aufs Festland, wo es bezahlbaren Wohnraum und eine funktionierende Infrastruktur gibt. Flavio Scaggiante spürt als Erster, wie sich Venedig verändert. Mit seinem Lastkahn macht er Umzüge, bis er seinen eigenen Hausstand verschiffen muss, und nun wohnt er in Sichtweite einer Autobahn. „Ich treffe hier viele alte Bekannte“, lächelt er tapfer. Die Gewährsleute, die Pichler für seinen melancholischen Widerstandsfilm getroffen hat, sind allesamt zu Herzen gehende Venezianer. Selbst einem Makler, der am Ausverkauf der Serenissima verdient, kommen im feuchten Treppenhaus die Tränen.

Das ist beinahe zu schön, um wahr zu sein. Und sicher wäre das gänzliche Fehlen eines jüngeren Blicks und das Ausbleiben jeglicher Konfrontationen schmerzhafter ausgefallen, wäre da nicht Tudy Sammartini, die den Kreuzfahrtschiffen Lebewohl winkt. Die kettenrauchende 81-jährige Nachkommin venezianischer Adliger ist so wenig sentimental wie ihre Vorfahren und von scharfzüngiger Unabhängigkeit. Erst wenn Menschen wie sie nicht mehr in Venedig leben, geht die Stadt unter. Von den Decks der Kreuzfahrtgiganten wird man das allerdings gar nicht erkennen können. Ulrich Amling

Filmkunst 66, fsk am Oranienplatz,

Kant; OmU in den Hackeschen Höfen

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