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Kultur: In der Untergrundbahn Drei Uraufführungen zum Orpheus-Mythos in Bielefeld

Mit dem roten Latexabguss einer Rinderzunge schlägt der Pianist auf ein Klavier ein. Schnecken kriechen im feuchten Keller Klavierdeckel hoch, und dort, wo eine spärlich bekleidete Frau blutige Herzen durch Pumpen mit Blaseröhren in zuckende Schwingungen versetzt, bellt in einer finstren Ecke ein Höllenhund.

Mit dem roten Latexabguss einer Rinderzunge schlägt der Pianist auf ein Klavier ein. Schnecken kriechen im feuchten Keller Klavierdeckel hoch, und dort, wo eine spärlich bekleidete Frau blutige Herzen durch Pumpen mit Blaseröhren in zuckende Schwingungen versetzt, bellt in einer finstren Ecke ein Höllenhund. Auf drei Stockwerken des Bielefelder Atomschutz-Bunkers Ulmenwall verteilt, führt der österreichische Komponist Georg Nussbaumer seine Zuschauer ins „orpheusarchipel". Das Treibgut, das auf diesem Archipel angeschwemmt wurde, ist ein mythologisches Laboratorium, in dem man weniger dem Gesang, sondern den Schwingungen und oft kaum vernehmbaren Tönen lauschen kann, mit denen es Orpheus gelang, Eingang in die Unterwelt zu finden.

Auch wenn Sex-Vibratoren und blutige Innereien dabei an den österreichischen Aktionismus erinnern, Nussbaumers Orpheus-Installation lebt nicht vom Schock, sondern ist im Gegenteil eine kluge,sich über eineinhalb Stunden entwickelnde Komposition von medidativem Charakter, der ruhige Abschluss und Höhepunkt eines dreiteiligen Orpheus-Projekts, mit dem das Bielefelder Musiktheater spektakulär die Opern-Saison 2002/2003 eröffnet hat. Als Opernstadt ist Bielefeld nicht unbekannt. Konsequent bemühte man sich seit den Achtzigern, die verschüttete Tradition eines einst lebendigen und reichhaltigen Opernrepertoires zu beleben. Die seit vier Jahren amtierende Intendantin Regula Gerber und ihr Musikdramaturg Roland Quitt setzen nun auf Experimentelle Musik, die das Theatralische von Musik selbst zum Thema macht. Dass diese Art von Musikavantgarde bisweilen schon etwas angejahrt wirkt und manchmal blutleer akademisch erscheint, ist im Orpheus-Projekt im ersten Teil spürbar. Iris ter Schiphorsts „Eurydike - Szenen aus der Unterwelt"hat die Ambition, die Orpheus-Geschichte feministisch zu erzählen: Eurydice, von der Schlange gebissen, ein Opfer von Vergewaltigung.

Zum lustvollen, aufwendigen Spektakel wird das Projekt erst im zweiten Teil, der in der Bielefelder Bahnstation „Rudolf-Oetker Halle" stattfindet, und, musikalisch und inszenatorisch von Manos Tsangaris als „Totaltheater" eingerichtet, „Orpheus Zwischenspiel" heißt. Erst kürzlich hat Bielefeld für seine Straßenbahnen eine kleine, teure U-Bahnstrecke bekommen, etwas zu luxuriös, um Großstadtstimmung aufkommen zu lassen, eine Glas- und Stahl-Unterwelt, die nun mit Unterstützung der städischen Verkehrbetriebe und von 120 Statisten für einen Abend zum Ort für Kunst wird. Orpheus ist für Tsangaris der Künstler, der allein bleiben und seine Geliebte Eurydice nur jenseits der Realität besitzen will. Entspricht Orpheus nicht in der Blicklust und im Blickverbot tatsächlich den flüchtigen sehnsüchtigen Kontakten in der U-Bahn?

Schon im Lift wird man von kostümierten Hadesdienern als Liftboys begleitet, und die U-Bahn-Züge, die man für die Fahrten ins Unterirdische besteigt, sind zu gruseligen Geisterbahnen verwandelt. Der Klangteppich, aus zufälligen Geräuschen der tiefergelegten Verkehrswelt zusammengesetzt, wird dabei durchaus zu einer dynamischen Komposition, wobei der Text nicht dramatisch vorgetragen, sonden als Buchstabenprojektion eingeblendet ist. Dass dies alles mehr als nur ein Unterweltsjux ist, verdankt sich nicht zuletzt dem präzisen Spiel des Philharmonischen Orchesters Bielefeld unter Cornelia Nordmeyer und den Solisten, allen voran Countertenor Charles Maxwell als Orpheus. Und dass das Orpheus-Projekt mehr als nur ein Lokal-Event ist, zeigt zum Abschluß eben Nussbaumers Installation im Atombunker. Man wünscht sich, seinen Fundstücken auch außerhalb der seltenen Aufführungszeiten lauschen zu können. Bernhard Doppler

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