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Wo die Möwen maunzen. Saint-Malo in der Bretagne liegt auf einer vorgeschobenen Granitkuppe. Die Gezeitenunterschiede von bis zu zehn Metern sind die höchsten Europas, so dass man sich je nach Ebbe oder Flut an einer gänzlich anderen Küste wähnt.

© imago/Bluegreen Pictures

Literaturfestival in Saint-Malo: In drei Tagen um die Welt

Schon Montaigne wusste: Beim Reisen überschreitet man vor allem innere Grenzen. Ein Bericht von einem ganz besonderen Literaturfestival.

Herbei, ihr Landstreicher und Eskapisten, ihr Pilgerinnen und Taugenixen, ihr Künder und Kundschafter! Herbei nach Saint-Malo! Zum Festival der Étonnants Voyageurs, der erstaunlichen Reisenden, die diese alte bretonische Stadt alljährlich feiert. Der Titel ist einem famosen Gedicht Baudelaires entlehnt, mit dem jener nichts Geringeres schuf als einen Katechismus des Reisens, bis hin zur letzten, der ohne Wiederkehr.

Stefan George übersetzte die Stelle aus „Voyage“ mit „ihr hehren Wanderer“, und etwas vom Pathos heroischer Unvernunft wohnt wohl jeder nennenswerten Reise inne. Auch die literarische Verarbeitung ist immer schon darin angelegt. Keines der großen Epen, das seine Helden nicht in die weite Welt schickte, von der Odyssee bis zur Edda. Weshalb Reiseberichte zum literarischen Uradel zählen. Doch wirken sie heute nicht heillos romantisch, im Zeitalter des Massentourismus auf der einen und massenhafter Fluchtbewegungen auf der anderen Seite?

Solche Fragen erörtert dieses weltweit einzigartige Festival seit fast schon dreißig Jahren. Längst ist es selbst zum Wallfahrtsort geworden, zieht jedes Jahr an die 250 Künstler und 60 000 Besucher an. Nur diesmal kamen etwas weniger, weil die Eisenbahner im Ausstand waren. Streiks gehören in Frankreich zur Folklore, die Gewerkschaften verstehen sich entsprechend als Volkskunstvereine, ihre Begeisterung über das pünktlich zu Pfingsten angerichtete Chaos war buchstäblich schrankenlos. Während die Bahnhöfe landesweit im Dornröschenschlaf lagen, suchten Scharen nicht nur erstaunlicher, sondern nun auch erstaunter Voyageure, dennoch bis zum Ärmelkanal vorzustoßen. Das Festival bot auf seiner Facebook-Seite Mitfahrgelegenheiten an und stellte in Paris Buskarawanen zusammen. Wer die Reise tat, hatte prompt schon etwas zu erzählen.

Saint-Malo ist der perfekte Ort für das Literaturfestival

Bereut hat sie vermutlich niemand, dazu ist Saint-Malo zu malerisch. Die befestigte Altstadt auf einer vorgeschobenen Granitkuppe, daneben das Seebad der Belle Époque und die modernen Hafenanlagen für Handelsmarine, Fischereiflotte und Englandfähren wie auch für tausende privater Jachten. Die umliegenden Buchten verzeichnen mit über zehn Metern den höchsten Tidenhub Europas, so dass man sich an zwei gänzlich verschiedenen Küsten glaubt, je nach Ebbe oder Flut. Die Möwen maunzen auf den Dächern, es riecht nach Meeresfrüchten, Maschinenöl und Tang. Seeräuber und Entdecker füllen die Annalen, dazu Dichter wie Chateaubriand und keltische Mönche wie der Stadtbegründer Malo und Brendan, der Reisende. Ein passenderer Ort für ein solches Festival ließe sich gar nicht finden.

Für drei Tage wird Saint-Malo zum Nabel zumindest der französischsprachigen Welt. Die Literaten kapern die Stadt. An dreißig Austragungsorten diskutieren sie von früh bis spät, umringt von einem lesewütigen Publikum, das eine unbändige Wissbegier an den Tag legt. Noch die größten Säle sind schon eine halbe Stunde vorher gut gefüllt, dann gehen auch die Stehplätze zur Neige. Von einer Krise des literarischen Lebens keine Spur.

Das Themenspektrum fächert sich breit auf. Unter Titeln wie „Wurzeln“, „Mythologien“, „Die Frauen der Beat Generation“, „Schreiben über den Krieg“ oder „Der hohe Norden“ stellen jeweils drei oder vier Autoren ihre jüngsten Bücher vor. Ob Debütantin oder Mitglied der Académie française, ob Verfasser eines Bestsellers oder eines Gedichtbandes, ob werdende Mutter oder früherer Premierminister – drei Tage lang gelten keine Rangunterschiede, Voyageur ist Voyageur. Was hat sie auf die Kerguelen- Inseln geführt? Wovon handeln kreolische Märchen? Wie war das damals in Französisch-Sudan? Erzählen sie, erzählen sie.

Erzwungene Reisen nehmen breiten Raum ein. Über das Schicksal des Exils sinnieren die syrische Lyrikerin Hala Mohammad oder die streitbare Asli Erdogan, die in der Türkei ausharrt, und deren Tapferkeit man nur bewundern kann. Der kurdisch-armenische Autor Azad Ziya Eren will „ohne ungute Gefühle“ über seine anatolische Heimat schreiben, was angesichts dieser zweifachen Hypothek fast übermenschliche Anstrengungen voraussetzt – und doch gelingt es ihm auf wundersame Weise. Das Überschreiten innerer Grenzen stellt womöglich eines der größten Abenteuer überhaupt dar. In diesem Sinne verstand schon Montaigne Reisen als „Exerzitium der Seele“, als Lebensübung und Lebensart. In seinem Geiste beschreibt etwa Christine Jordis ihr Rendezvous mit der Endlichkeit, erfährt das Altern als einen Trip wider Willen, einfache Fahrt, und doch spannend, leuchtend und unbeirrbar produktiv.

Vor allem bretonische Lokalmatadore treten auf

Andere Foren demonstrieren, dass Naturschilderung weit mehr sein kann als, nach Benns köstlichem Bonmot, das Bewispern von Gräsern und Nüssen. Yann Queffélec etwa, einer der vielen bretonischen Lokalmatadore, legt „ein Wörterbuch des Meeres für Liebhaber“ vor. Jean Rouaud spürt der Faszination prähistorischer Felsbilder nach, als Mensch und Natur sich eben erst voneinander schieden. Überhaupt fungiert das Festival als Präsentierteller der französischsprachigen Literatur. Mancher Habitué hatte sich schon einen Schlagabtausch mit Sartre geliefert oder gemeinsam mit Camus eine Zeitschrift herausgegeben. Oder gar, wie Edgar Morin, noch in den Reihen der Résistance gekämpft. Im Café kommt man unversehens mit legendären Reisenden wie Eric Orsenna oder Isabelle Autissier ins Gespräch.

Zeitreisende bilden eine eigene Gilde. Der Schweizer Eric Hoesli fragt sich angesichts der Wildwestmythen seiner Jugend, warum die Kolonisierung des Ostens keine vergleichbaren Heldengeschichten hervorgebracht hat. Um dann zu einem 800seitigen Epos über die russische Landnahme in Sibirien anzuheben. Gen Osten zieht es auch Andrzej Stasiuk, der diesmal den Prix Nicolas Bouvier errungen hat, einen der zahlreichen Preise des Festivals, benannt nach einem Säulenheiligen des Metiers. Auf die Frage, warum er losgezogen sei, gibt Stasiuk die wohl ehrlichste und beste Antwort: Um ein gutes Buch zustande zu bringen.

Die französische Öffentlichkeit frönt sichtlich anderen Vorlieben und Obsessionen als die deutsche. Afrika scheint hier näher als etwa Osteuropa. Frankophonie heißt das Zauberwort. Dank der Macht der Sprache werden selbst Autoren aus Neukaledonien oder Haiti als Landsleute wahrgenommen, während die sonst so dominanten Angloamerikaner als Exoten firmieren. Englisch wird denn auch mit der gleichen Beflissenheit übersetzt wie Slowenisch oder Mongolisch, da man nun wirklich nicht erwarten kann, dass auch nur Teile des Publikums einer derart peripheren Sprache mächtig wären. Selbst Größen wie Armistead Maupin geraten dadurch zu jovialen Randerscheinungen, während noch so marginale Poeten aus Mali oder Madagaskar geradezu staatstragend daherkommen.

Natürlich ist da viel postkoloniale Nostalgie im Spiel, um nicht zu sagen Narzissmus. Als Emmanuel Macron im März eine frankophone Bildungs- und Medienoffensive ankündigte, ja regelrecht zum kulturellen Wettrüsten anstiftete, griff er dabei auf ein entsprechendes Manifest der Étonnants Voyageurs zurück. Zugleich fungiert das Festival jedoch als Gegenöffentlichkeit, als eine hochwillkommene Gelegenheit, sich jenseits der offiziellen Verlautbarungen und des Medien- Mainstreams ein Bild vom Zustand der Welt zu verschaffen.

Unter dem Dach des Literaturfestivals finden zugleich auch Film-, Comic- und Kinderbuchtage rund ums Reisen statt. Hinzu kommen Konzerte und Ausstellungen, darunter eine großartige Arbeit von Pascal Maître über die Erleuchtung des „dunklen Kontinents“, die Folgen der fehlenden Elektrifizierung in Afrika. Eine weitere Säule bildet die angeschlossene Reisebuchmesse, auf der 250 Verlage ihr Sortiment ausbreiten, damit sich die Lagerhallen am Kai in ein Schlaraffenland für Leser verwandeln. Selbst die Signierstunden münden oft noch in leidenschaftliche Diskussionen. Und so gerät Saint- Malo zu einem eindrucksvollen Plädoyer fürs Lesen überhaupt, verspricht doch jedes Buch eine Reise.

Stefan Schomann

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