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Kultur: In einem Schritt um die Welt

Manifest einer Reise: Mit dem Musikfilm „1 Giant Leap“ suchen zwei englische Pop-Produzenten nach der globalen Sprache

Von

Ralph Geisenhanslüke

Ein gewisser Größenwahn gehört schon dazu, sich an Neil Armstrong anzulehnen. Der Astronaut von Apollo 11 verbrachte 195 Stunden im Weltraum. Und riskierte sein Leben, damit er beim Betreten der Mondoberfläche seine berühmten Worte sprechen konnte. Ein kleiner Schritt für ihn, ein großer für die Menschheit. Apollo 11 landete im Mare Tranquillitatis, dem „Meer der Ruhe“, von wo aus die Mondpioniere einen herrlichen Blick auf den Erdaufgang hatten.

Jamie Catto und Duncan Bridgeman waren etwa 33 Jahre später nur sechs Monate unterwegs – auf der Erde. Trotzdem nannten sie ihr Musikprojekt „1 Giant Leap“ (ein großer Schritt) mit dem sie ein Budget riskierten, das etwa den Produktionskosten eines normalen Popvideos entspricht. Und auch Ruhe fanden sie nirgends. Stattdessen stürzten sie sich in Amerika, Asien, Afrika und Australien ins brüllende Leben, um eine Standortbestimmung des Menschen mit Hilfe von Musik vorzunehmen.

„1 Giant Leap“ ist eine Erkundung, so wagemutig und romantisch, dass sie in der Redaktion eines Fernsehsenders vermutlich in Grund und Boden geredet worden wäre. Klingt die Idee doch wie ein Nachhall vergangener Jahrzehnte. Jener Zeiten, als man mit „Weltmusik“ die Formel für eine Verständigung über kulturellen Grenzen hinweg gefunden zu haben glaubte. Ein schillerndes Versprechen.

Und ein alter Musikertraum: In den Fünfzigerjahren nahm Martin Denny seine Südsee-„Exotica“ direkt am Strand von Waikiki/Hawaii auf. Anfang der Sechziger tourte Albert Mangelsdorff mit seiner Band durch Indien. In den Siebzigern zogen Hippie-Kollektive wie Embryo durch die Welt. In den Achtzigern war es vor allem Peter Gabriel, der mit seinem Real World Label und dem WOMAD-Festival den Gedanken aufrecht erhielt, dass Musiker der so genannten Dritten Welt unter Erst-Welt-Bedingungen produzieren sollten. Manche wurden zu Superstars wie Youssou N’Dour aus dem Senegal. Doch die allgemeine Globalisierungseuphorie verflog, als immer billigere Sample-Technik es ermöglichte, exotische Klänge auch ohne deren Urheber zu verwenden. Ein paar Trommeln für die Kaffeereklame? Ein Mausklick: Kolonialismus light. Wer fragt da nach Wahrhaftigkeit?

Catto und Bridgeman haben es getan. Beide sind aufgrund ihrer Karrieren frei von dem Verdacht, musikalische Häkelworkshops abzuhalten. Catto ist Mitbegründer von Faithless, einer erfolgreichen House/Trance/Techno-Pop-Band. Bridgeman war Produzent unter anderem von Take That und Duran Duran. Trotzdem hegen sie Bewunderung für die großen Welt-Töner und Chefideologen: Brian Eno, David Byrne und Peter Gabriel.

Gabriels Idee der „Rückzahlung“ an die Dritte Welt, wird allerdings von seinen Jüngern anders umgesetzt: „Wir hatten nicht das Gefühl, jemandem etwas schuldig zu sein“, sagt Bridgeman. „Sie von uns zu unterscheiden, ist schon ein Fehler. Wir sind eine Menschheit. Das wollten wir feiern.“ Dennoch wollten Catto und Bridgeman das Material nicht zusammenklauen, sondern an Ort und Stelle aufnehmen. Ihr Aufnahmestudio bestand deshalb aus einem Laptop und einer Digitalkamera. Sie wollten legendäre Musiker treffen: Asha Bosle zum Beispiel, die Stimme Bollywoods, die auf über 1000 indischen Soundtracks gesungen hat, den Reggae-Poeten Linton Kwesi Johnson, den HipHop-Landkommunengründer Speech. Sie wollten aber auch Stars wie Robbie Williams, Michael Stipe und Neneh Cherry. Und sie wollten ihre Helden treffen wie die Schriftsteller Kurt Vonnegut, Tom Robbins oder den Schauspieler Dennis Hopper.

Alle, alle sind zu hören. Und zu sehen. Denn am Ende waren hunderte von Stunden Material zusammengekommen, zu viel für eine CD, weshalb Catto und Bridgeman das Medium wechselten – und auch eine DVD entstand. DVDs sind momentan der Lichtstrahl am Ende des langen dunklen Tunnels, durch den sich die krisengebeutelte Musikindustrie schleppt. Nicht nur befriedigen DVDs auch das visuelle Bedürfnis der Hörer, die Musik sehen wollen, auch sind sie noch schwer zu kopieren. Sie fassen gigantische Datenmengen, und bereits jetzt ist die Hälfte der deutschen Haushalte mit einem Abspielgerät ausgestattet. Häufig als Teil eines Dolby-Surround-Heimkinos, das gefüttert werden will. Nicht nur mit Spielfilmen. Durch die Einführung der DVD hat der Verkauf von Musikfilmen seit letztem Jahr allein in Deutschland um 85 Prozent zugenommen, in den Niederlanden sogar um fast 300 Prozent. In der Regel beschränkt sich eine Musik-DVD auf ein paar Videoclips, Interviews und ein „Making Of...“. Lediglich Klassikliebhaber haben häufig die Wahl, bei Konzertmitschnitten zwischen den Kameraperspektiven zu wechseln, Abbado von vorn oder von hinten zu sehen.

Was Jamie Catto und Duncan Bridgeman auf ihre DVD gepackt haben, ist ein Angebot, durch die Welt zu surfen. Es ist nach Kapiteln geordnet, die mit den Themen wie „Gott“, „Geld“, „Sex“, „Inspiration“, „Zeit“ oder „Tod“ einige zentrale Fragen streifen – und noch mehr Antworten geben. Man kann gezielt die Äußerungen einzelner Interviewpartner suchen, man kann die Kapitel ansehen oder einen gut zweistündigen Film, der an Informationen und Ansichten so voll ist wie drei Themenabende auf „arte“. Eines hat Bridgeman bei dieser tour d’horizon gelernt: „Früher habe ich auf Reisen gedacht: Ich will diesen Ort sehen, den Tempel besichtigen oder an jenem Strand liegen. Aber diesmal ging es nur darum, Menschen zu treffen. Die Orte sind beinah unwichtig. Wenn man sich die DVD anschaut, weiß man nie genau, in welchem Teil der Welt man gerade ist. Es kommt allein auf die Leute an.“

Wie stehen Cheyenne zu ihren Kindern? Was sagt ein thailändischer Rabbi, ein Priester in Ghana? Wie sehen Maoris und Aborigines die Welt? Allesamt Menschen, die das „Genie in jedem Menschen“ entdeckt haben, deren äußere Armut im Gegensatz zu überbordendem inneren Reichtum steht. Mag sein, dass eine Supermarkt-Kette wie Wal Mart so viel Umsatz macht wie 150 Staatshaushalte; mag sein, dass die Börse inzwischen mehr Macht hat als die Weltreligionen. Aber die Börse kann nicht tanzen.

Brian Eno sagt einen schönen Satz: „So wie wir mittlerweile gelernt haben, Mitleid mit Menschen in China oder Afrika zu haben, so sollten wir auch lernen, Mitleid mit zukünftigen Generationen zu haben.“ Dass die Mittel auf der Erde ungleich verteilt sind – darüber redet man schon gar nicht mehr. Auch nicht darüber, dass bei Reisen wie Duncan und Bridgeman sie unternahmen, mittlerweile die Angst ein ständiger Begleiter ist. Die Welt ist enger geworden, die Hoffnung auf Musik als allgemeiner Menschensprache scheint verklungen. Aber, so sagt ein Gitarrist aus Südafrika: „Jeden Tag kommt die Musik zu mir, und ich halte sie fest.“

„1 Giant Leap“, DVD (Palm Pictures/Zomba). Untertitel in Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch.

Ralph Geisenhanslüke

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