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Kultur: In Erwartung eines freudigen Ereignisses

Eine junge, vornehm gekleidete Frau steht in einem Zimmer vor einem kleinen Spiegel an der Wand.Man sieht sie im Profil.

Eine junge, vornehm gekleidete Frau steht in einem Zimmer vor einem kleinen Spiegel an der Wand.Man sieht sie im Profil.Offenbar ist sie im Begriff, sich eine Perlenkette um den Hals zu binden.Dabei betrachtet sie sich.Rechts neben dem Spiegel befindet sich ein Fenster, die einzige Lichtquelle in dem Raum.Auffällig erscheint mir die Reduzierung des Dekors auf das Nötigste, wodurch eine unheimliche Konzentration auf die junge Dame erreicht wird.Die Stimmung, die von ihr ausgeht, steht so im Mittelpunkt.

Ihr Gesicht strahlt auf mich Reinheit und Anmut aus.Durch das Sonnenlicht, das durch das Fenster hineindringt und auf die Frau fällt, entsteht eine friedvolle, freundliche Stimmung, unterstützt auch durch die warme gelbe Farbe sowohl des Vorhangs als auch der Jacke der Frau.Gerade an diesem Bild Jan Vermeers läßt sich sehr gut zeigen, wie sehr die Rezeption von Kunst durch klischeehafte Deutungen in meiner Ansicht nach immer wieder falsche Bahnen gelenkt werden kann.Denn oft wurde das Bild der jungen Dame vor dem Spiegel als eine Versinnbildlichung des Vanitasgedankens gedeutet.

Wenn ich mich als Betrachter emotional auf das Gemälde einlasse, erhält es eine ganz andere Bedeutung.Für mich hat die Selbstbetrachtung im Spiegel hier nichts mit Eitelkeit zu tun.Die Frau erscheint sinnierend, fast selbstvergessen, sie hat offenbar etwas wirklich Schönes erlebt oder ist in Erwartung eines freudigen Ereignisses.In ihrem Gesicht ist ein Ausdruck von Glück, so daß die Grundstimmung des Bildes sehr positiv erscheint.Vielleicht ist die Dame verliebt? Ein erotisches Symbol ist für mich die Puderquaste auf dem Tisch, vor dem die Frau steht.Insgesamt verkörpert dieses Bild Sinnlichkeit in ganz hohem Maße.

Die helle Wand im Hintergrund ist vollständig leer und bildet einen starken Kontrast zum dunklen Vordergrund, wo schwarzes, wuchtiges Tuch schön drapiert auf einem Tisch aus dunklem Holz liegt.Durch das Wechselspiel von Helligkeit und Dunkelheit erhält die Szenerie um die Dame eine unheimliche Spannung.Auch die Kehrseite des harmonischen, erfüllten Augenblicks wird so angedeutet: ein Moment von Melancholie und tiefer Depression.Faszinierend finde ich dabei die vollkommene Zeitlosigkeit, die Modernität des über 300 Jahre alten Bildes.Denn trotz der zeitgenössischen Kleidung und des Dekors ist es von uneingeschränkter Aktualität.Auf wunderschöne Weise drückt Vermeer eine menschliche Grundbefindlichkeit ausgedrückt: stilles, stets gefährdetes Glück.

Der Autor gehört als Maler zu den wichtigsten Vertretern der Neuen Wilden und lebt heute in Berlin und New York.

RAINER FETTING

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