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Kultur: In Geiselhaft

Plädoyer gegen Intoleranz: der Fotograf Wolfgang Tillmans in Hannover

Kunst auf der Höhe der Zeit: Der Fotograf Wolfgang Tillmans versammelt Artikel über den türkischen Völkermord an den Armeniern, über Dani Levys „Hitler“-Komödie, die britischen Reaktionen auf Jörg Friedrichs Zweiter-WeltkriegsBuch „Der Brand“, den Börsengang der Bahn und die NPD-Erfolge in Sachsen. Seine Arbeit „Truth Research Center“, die nun in der Kestner-Gesellschaft in Hannover zu sehen ist, ist ein Archiv der besonderen Art, in Form von Zeitungsartikeln, Zitaten, Internetausdrucken und Fotografien, eine luzide Gegenwartsbeobachtung, ein politisches Manifest. Und eine monumentale Wortmeldung, ein Opus magnum des 38-Jährigen.

35 Tische sind im großen Saal der Kestner-Gesellschaft aufgebaut, für Tillmans’ erste Einzelausstellung in Deutschland seit fünf Jahren. Das „Truth Research Center“, zuvor schon in London, Chicago und Helsinki gezeigt, bildet in für Hannover noch einmal aktualisierter Form das Herz der Präsentation. Eine Materialsammlung, vergleichbar mit Gerhard Richters „Atlas“ oder mit Aby Warburgs Mnemosyne-Bildatlas: nach Themen geordnet, eine Mischung aus eigenen Fotos, Zeitungsausschnitten, Büchern, Plakatmaterial sowie einigen Millenniumsrelikten wie Kerzen, Pappbechern und Countdown-Weckern.

Ein Countdown besonderer Art läuft auch in Tillmans’ neuer Arbeit: ein Countdown der westlichen Welt. „In den vergangenen Jahren beherrschten die verabsolutierenden Stimmen der religiös Intoleranten und weltanschaulich Reaktionären den politischen Diskurs. Es sieht so aus, als hätte eine dogmatische Minderheit die Welt in Geiselhaft genommen, während diejenigen, welche die Dinge eher in ihrer Bedingtheit betrachten, ungläubig und ohnmächtig zusehen müssen“, diagnostiziert Tillmans im Katalog. Und liefert mit seiner Materialsammlung die Beispiele dazu: Sticker, die in London auf Werbeplakate geklebt werden und auf denen „islamische Werte“ wie Glauben, Ehrlichkeit, Barmherzigkeit, Familienwerte und Moral gegen die „britischen Werte“ Staatsterrorismus, Ausbeutung, Homosexualität, Alkohol und Spielen gesetzt werden. Berichte über Antisemitismus, Fundamentalismus und Gewalt gegen Frauen aus dem Iran. Ein Zeitungsbericht über mit Glassplittern versetzte rechtsextreme Wahlplakate in Berlin, die jeden, der sie entfernen wollte, verletzen. Eine Ferienwohnungsanzeige aus der Sächsischen Schweiz, „ganzjährig von Kam. zu vermieten“, die mit dem Slogan wirbt: „21,1 % für die NPD – Hier macht man Urlaub“. Und ein Hochglanzbericht über die Filmschauspielerin Kristin Scott Thomas, die auf Bali Urlaub macht – was die weltweite Vermarktung als Ferienparadies für die Südsee ökologisch bedeutet, erfährt man nicht. Es ist eine zornige, anklagende, auch ratlose Wortmeldung. Ein bitteres Erwachen der westlichen Spaßgesellschaft, für die Tillmans’ Fotografien Anfang der neunziger Jahre, als er als „Spex“-Fotograf mit Partyaufnahmen, Starporträts und intimen Einblicken in seinen Freundeskreis berühmt wurde, prototypisch stehen.

In der Folge experimentiert er nun mit „kameralosen“ Bildern, zufällig generierten Farbflächen, die durch Restpartikel beim Durchlaufen der Entwicklungsmaschine entstehen, oder er faltet und biegt Fotopapier zu „Paper Drops“, ellipsenförmigen, glänzenden abstrakten Kompositionen, die erst auf den zweiten Blick verraten, was sie sind. Beispiele aus allen Phasen sind in Hannover zu sehen, Partybilder, Fotoexperimente, dazu ein anrührendes Porträt des Künstlers Richard Hamilton, eine Ansicht des Fuji oder ein Stillleben mit Apfelzweigen.

Doch immer stärker hat Tillmans sich nun dem Zusammenhang zwischen Bild und Text verschrieben – ähnlich dem amerikanischen Zeichner Raymond Pettibon, der auch aus dem allgemeinen Medienarsenal schöpft und den die KestnerGesellschaft parallel zur Tillmans-Ausstellung zeigt. Der 11. September, der Irakkrieg, die Diskussion um die dänischen Comics sowie die Rolle der Medien in der globalisierten Welt beschäftigt beide Künstler. Und während Tillmans’ Kollege, der Düsseldorfer Fotograf Thomas Ruff, zur selben Zeit eine Einladung des Sprengel-Museums nutzt, um zwischen den sammlungseigenen Meisterwerken des 20. Jahrhunderts und seinen eigenen Fotografien einen kunstinternen, motiv- und formzentrierten Dialog zu eröffnen, in dem er sie direkt gegenüberhängt, setzen Tillmans und Pettibon bewusst auf die offene Form, auf die fortlaufende Zeichnungsserie oder das sich immer erweiternde Archiv. Ihre Reflexionen über die Verwertung von Bildmaterial für mediale und propagandistische Zwecke machen sie – in der Tradition von Susan Sontag – zu gewichtigen Kommentatoren der Gegenwart.

Wolfgang Tillmans, Kestner-Gesellschaft Hannover, bis 6. Mai. Künstlerbuch „Manual“, Verlag Walther König, 49 €.

Christina Tilmann

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