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Kultur: Indien: Erschüttert

Für Außenstehende ist fast unverständlich, mit welcher Starrheit die Menschen auf die Katastrophe reagieren, die ihr Leben zerstört hat. In Indien, wo die Tradition es verlangt, dass der Tod von lautem Wehklagen begleitet wird, bleiben sie diesmal still ergeben in das Schicksal, das ihnen im endlosen Zyklus der Wiedergeburten auferlegt wird.

Für Außenstehende ist fast unverständlich, mit welcher Starrheit die Menschen auf die Katastrophe reagieren, die ihr Leben zerstört hat. In Indien, wo die Tradition es verlangt, dass der Tod von lautem Wehklagen begleitet wird, bleiben sie diesmal still ergeben in das Schicksal, das ihnen im endlosen Zyklus der Wiedergeburten auferlegt wird. Die meisten Inder sind auch im Zeitalter der Areligiosität tiefgläubige Hindus. Der andere Bevölkerungsteil, die Muslime, akzeptieren, was Allah ihnen an Prüfungen auferlegt.

Nur so lässt sich erklären, warum hierzulande, wo es fast jedes Jahr eine schreckliche Naturkatastrophe gibt, kaum jemand gegen die Regierenden rebelliert, die herzlich wenig Interesse an dem Schicksal der Menschen haben, die sie wie ihre Untertanen behandeln. Die regierende rechtsextremische indische Volkspartei BJP hat es zwar geschafft, überall im Lande Zehntausende von Ortsvereinen zu gründen, die ihre hindufundamentalistische Ideologie den Leuten eintrichtern, und gleichermaßen unterhält sie Zehntausende von Sturm-Abteilungen, die wie die SA der bewunderten Nationalsozialisten organisiert sind.

Aber so etwas wie ein Katastophenschutz oder ein Technisches Hilfswerk existiert nicht. Jahr für Jahr ist man auf den Einsatz der Armee und die Hilfe aus dem Ausland angewiesen, wenn die Naturgewalten sich wieder einmal Bahn gebrochen haben.

Die Dimension der Verheerungen wurde erst am Sonntag richtig sichtbar. Allein in der am schlimmsten betroffenen Stadt Bhuj seien 20 000 Menschen ums Leben gekommen, 50 000 Verletzte und Tote würden noch in den Ruinen eingestürzter Häuser vermutet, berichtete ein Ärzteteam. Andere Schätzungen lauten auf 125 000 Verschüttete. Die Katastrophe vom Freitag hat zu Panik und Chaos geführt. Mit Tränen in den Augen wühlen die Menschen in den Trümmern und hoffen Überlebende zu finden, sie stochern mit dünnen Eisenstangen. Jemand hat einen winzigen Schneidbrenner angesetzt, umsonst. Eine kalte Hand ragt unter einem Betonbrocken hervor. Ein blutiger Fuß. Drüben liegt ein kleines rotes Bündel, das Gesicht von Fliegen umschwärmt, ein Kind - tot. Die wenigen Ambulanzen, über die die Millionenstadt verfügt, rasen ziellos durch die Straßen, beschlagnahmte Busse laden zerschmetterte Körper vor den Krankenhäusern ab. Halbtote Menschen werden auf Motorrollern zu den Ärzten gekarrt.

Aber selbst wer es bis zum Krankenhaus schafft, hat kaum eine Chance zu überleben. Ärzte und Schwestern stehen bis zu den Knöcheln im Blut und schaffen es doch nicht. Es fehlt an Medikamenten, an Betäubungsmitteln, an Verbandszeug und an Blutkonserven. Und es sind einfach zu viele, die ihnen in die Korridore und vor die Tür gelegt werden. Mit bloßen Händen arbeitet sogar die Feuerwehr. Es fehlt an schwerem Gerät, an Kränen, nur ein paar Bagger sind zu sehen, und die sind im Augenblick sinnlos. "Warum lässt man uns so allein" fragt eine Frau, die ihren Mann und ihre vier Kinder sucht.

Indiens Premierminister Atal Behari Vajpayee hat zwar den Notstand erklärt und die Armee "kriegsmäßig" in Marsch gesetzt, aber die Armee trifft wie auch die erste ausländische Hilfe erst 36 Stunden nach der Katastrophe ein. Die Armee, die als einziges wirklich organisiertes Organ des Staates helfen könnte, die als einzige über das notwendige Räumgerät verfügt, hat schließlich anderes zu tun. Sie bemüht sich, die Volksaufstände in Kaschmir und im fernen Nordosten niederzuschlagen. Dort, wo die Menschen gegen die Vernachlässigung durch Delhi und gegen ihre Rückständigkeit rebellieren. Dagegen, dass die Politiker nichts für sie tun, weil sie als Wähler uninteressant sind. Was zählen schon Menschenschicksale?

1993 kamen bei dem verheerenden Erdbeben bei Latur in Maharashtra über 10 000 Menschen um, und ein ganzer Landstrich war dem Erdboden gleich gemacht. Damals gab es eine großzügige Aufbauhilfe vom indischen Staat und aus dem Ausland. Aber das Geld versickerte in den Taschen korrupter Bauunternehmer und Politiker. Gar nicht erst etwas unternommen wurde in den meisten Teilen des rückständigen Staates Orissa, den vor zwei Jahren ein Wirbelsturm heimsuchte und wo es ebenfalls über 10 000 Tote gab. Das sind keine guten Aussichten für die Überlebenden der Erdbebenkatastrophe von Gujarat. Aber die sind noch dabei, ihre Toten zu verbrennen und zu begraben. Und deren Zahl steigt Stunde um Stunde.

Gabriele Venzky

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