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See im Sommer.

© dpa

INTERVIEW: „Bei 12 Grad beginnt das Leiden“

John von Düffel schwimmt gern in Seen, seine Leidenschaft gehört dem Wasser. Ein Gespräch über Angst, Unvernunft, Krämpfe und den Kampf am Schreibtisch

Herr von Düffel, für die „Süddeutsche“ sind Sie der „Bademeister der Literatur“, die „FAS“ nennt Sie den „Wasserdichter“ und ein Literaturmagazin sogar „Waterholic“. Leben Sie gut mit diesen Etiketten?

Eine Zeit lang habe ich sehr versucht, mich von diesem Wasserklischee zu befreien. Inzwischen habe ich damit meinen Frieden gemacht. Jedes Klischee enthält eine Kernwahrheit, und diese ist, simpel gesagt, dass ich Schwimmer bin …

… und Sie haben sehr viel darüber geschrieben. Sie sind mit dem Roman „Vom Wasser“ bekannt geworden, es gibt das Büchlein „Schwimmen“ …

… und doch gibt es mehr Romane von mir, in denen davon so gut wie nichts vorkommt. Ich habe explizit versucht, über anderes zu schreiben und damit bei Lesern und Kritikern vielleicht auch Erwartungen enttäuscht. Ich wollte nicht, um es hässlich zu sagen, dass es zur Marke wird.

Ihr neues Buch handelt von einem literarischen Schreibkurs in einem Luxushotel. Wann taucht erstmals das Wort „Badehose“ auf?

Relativ früh, ich schätze mal auf Seite 25.

Seite 36. Sie sind regelrecht besessen vom Wasser.

In diesem Fall hat es mit Selbstironie zu tun. Doch es stimmt, ich komme nicht ohne aus. Die Nähe zum Wasser war bei mir schon immer da. Es ist, ich sage das mit dem ganzen Pathos, das in dem Wort steckt, mein Lebenselement. Ich bin geprägt von den Flüssen und Seen, an denen ich gelebt habe, in denen ich so oft geschwommen bin.

Sie sind an Diemel und Orpe aufgewachsen, Nebenflüssen der Weser.

Ja, und ich habe nicht nur an diesen Gewässern viel Zeit verbracht. Die Orpe ist so ein schwarzer Fluss, kühl, als ginge man durch eine Steingasse mit einem modrigen Grabesgeruch. Die Diemel läuft parallel und ist viel heller, silbriger, die duftet nach dem Laub der Pappeln, die sie säumen.

Der klassische Weg eines Kindes ist: Frei-, Fahrten- und Jugendschwimmen – und Mama näht die Abzeichen auf die Badehose.

Ich hatte keinen Lehrer, ich habe das Schwimmen spielerisch gelernt und auch sehr früh. Ich konnte eher schwimmen als schreiben. Ich erinnere mich, wie wir in der Diemel gespielt haben, dort, wo das Wasser flach war, und dass es einen Moment gab, wo ich begriff: Ich stehe nicht mehr, ich schwimme! Später wurde das Schwimmen für mich zur Rettung. Ich war der Jüngste in jeder Klasse und den anderen in vielen körperlichen Disziplinen unterlegen – nur im Wasser nicht. Mit 14 Jahren bin ich für ein Jahr in die USA gegangen. Sport war das wichtigste Fach. Ich begann, systematisch zu trainieren.

Sie haben sich freiwillig für die langen Strecken gemeldet, dafür zu trainieren ist eine Tortur. Woher kam dieser pubertäre Masochismus?

Ich habe weder den Körper noch die Mentalität eines Sprinters. Und der Drill beim Sprint war sehr viel härter. Da standen die Trainer ständig am Beckenrand, Stoppuhr, Trillerpfeife, sie haben kontrolliert und gemaßregelt, sie traten einem auch mal auf die Finger, wenn man sich am Beckenrand festhielt. So war mein Wechsel zur Langstrecke eher ein Entkommen. Die haben mich einfach drei Kilometer lang in Ruhe gelassen, also etwa eine Stunde, das war wunderbar.

Schwimmen ist entsetzlich zeitintensiv.

Wir waren um sechs Uhr für eineinhalb Stunden im Schwimmbad, dann kamen acht Stunden Schule, dann wurde wieder trainiert. Es war schon eine Sechs-Tage-Woche im Wasser.

Waren Sie denn erfolgreich?

Ich bin kein guter Wettkämpfer. Für mich findet der Hauptwettkampf ohnehin mit sich selbst und dem Element statt. Dieses Ringen mit mir selbst, das beschäftigt mich auch beim Schreiben. Es geht um die Vorstellung dessen, was man können müsste und von sich erwartet und die ständige Erfahrung, diese Erwartungen nicht zu erfüllen. Der Kampf im Wasser ist auch der Kampf am Schreibtisch.

Sie tun alles mit unerbittlicher Konsequenz. Sie waren schon mit 23 Jahren in Philosophie promoviert.

Zielstrebigkeit gibt es bei mir schon, das abzustreiten wäre gelogen. Ich habe allerdings nie ganz begriffen, warum der Streber als Figur so negativ konnotiert ist. Ich verstehe, dass es abstoßend ist, wenn man damit nur anderen gefallen will, aber das ist gar nicht mein Ziel.

So eine Phase mit Rumhängen, Alkohol, Zigaretten, die hatten Sie nie?

Nein. Und Kiffen habe ich gehasst. Sie spüren ja beim Schwimmen schon, ob Sie tags zuvor in einer verrauchten Bude saßen. Ich fand das unappetitlich. Mein Vater sagte mal, ich sei ein antitoxischer Typ. Da hat er recht. Ich komme mit meinen körpereigenen Naturgiften total gut durchs Leben.

Sie schildern Wasser als etwas Glückspendendes. Die meisten werden auch an Tsunamis denken, an Überflutungen, Dammbrüche.

Wasser hat immer auch mit Angst zu tun. Es ist eben, hochtrabend gesagt, das Element des Lebens, auch ein tödliches, zerstörerisches. Ich habe selbst Erfahrungen der Angst, meist das Herz betreffend in extrem kaltem Wasser …

… weil Sie in Seen rund um Potsdam schwimmen …

…und dann frage ich mich: Komme ich in eine Region, wo es gefährlich ist? Was, wenn das Herz jetzt aussetzt?

Herr Düffel, Sie haben eine Frau, ein Kind.

Ich frage mich auch immer, warum ich das mache.

Ganz einfach: Sie haben einen Knall.

Nein, also wie soll ich sagen, es kommt wirklich aus einem Bedürfnis nach Freiheit. Ich bin kein Kaltwasserschwimmer aus Masochismus. In unseren Breitengraden ist das Wasser der Seen leider die meiste Zeit des Jahres kalt, und das führt einen an die Grenze der Selbstkasteiung. Richtig unangenehm ist es allerdings im Meer, wenn man in Strömungen gerät und merkt, ich kann die lächerlichste Strecke nicht zurückschwimmen.

Das ist Ihnen passiert?

In Spanien, ich hatte sowohl Strömung als auch Temperatur unterschätzt. Gott sei Dank hat mir ein Fischer geholfen. Doch eine richtig eindrucksvolle Geschichte hat mir ein Australier in Dover erzählt, ein Baum von einem Kerl, wie er bei der Durchquerung des Ärmelkanals die Küste von Calais schon sehen konnte, und nach drei Stunden Kraulen hatte er hundert Meter geschafft. Er war in die Gegenströmung gekommen, musste aufgeben und ins Boot steigen.

Von Frankreich nach England sind es dort 35 Kilometer Luftlinie, die Temperatur des Wassers liegt um die 13 Grad. Haben Sie verstanden, was diese Schwimmer antreibt?

Na ja, das ging schon ein wenig über meinen Horizont. Deren Leidenschaft hat mich beeindruckt, das gebe ich zu. Aber ansonsten ist es ein Wahnsinnsaufwand, man muss die Route durch die Strömungen exakt berechnen, braucht ein Beiboot, das einen an Tankern vorbeilotst und notfalls rettet…

Es gibt einen sehr Paulo-Coelho-artigen Satz von Ihnen: „Du darfst dem Wasser nicht zeigen, dass du Angst hast, sonst bringst du es gegen dich auf.“

Es ist so. Wenn man beispielsweise anfängt, vor einem Krampf Angst zu haben, dann kommt er.

Seeleute wanken, wenn sie Land betreten. Sie auch?

Wenn ich im Frühjahr oder Herbst aus kaltem Wasser komme, ja. Die Blutzirkulation beschränkt sich da auf die lebenswichtigen Organe, Arme und Beine sind weitgehend abgestorben, man hat wenig Gleichgewichtssinn und stolpert sich erst mal auf Kiefernzapfen, Steinchen und Wurzeln irgendwie zurecht.

Ab 17 Grad beginnt das Wasser an Schläfen und Stirn bohrend zu stechen. Das ist kein Vergnügen.

Es gibt diesen Kälteschmerz, aber der Körper kann sich assimilieren und die Toleranzgrenze nach unten sehr weit absenken. Ideal ist es am Ende der Saison, wenn das Wasser langsam kälter wird, 17 Grad, 16, 14, da schaffe ich nur noch 40 Minuten…

…und wann ist Schluss bei Ihnen?

12 Grad sind bei mir die Grenze, da ist es nicht mehr Schwimmen, da ist es Leiden. Die Muskulatur zieht sich zusammen, man spürt, wie die Sehnen über die Knochen laufen. Der Körper gibt dem Gehirn ein Signal: Du musst jetzt raus! Dagegen muss man möglichst lange verstoßen.

Sie bewegen sich im Reich der Unvernunft.

Definitiv. Doch Unvernunft wird ja nicht immer nur bestraft, es gibt sehr schöne Erfahrungen auf der Welle der Unvernunft. Ich habe dann oftmals die trügerische Illusion, ich könne endlos schwimmen, obwohl mein Bewusstsein sagt, das kann nicht gutgehen. Es ist ein Glücksgefühl, wenn der eigene Körper zum Panzer wird, wenn die Kälte wie Nadelstiche erfrischend auf der Haut prickelt, es fühlt sich an, auch wenn das jetzt freakig klingen mag, als würde ich in Kohlensäure schwimmen.

Und die Körpertemperatur sinkt und sinkt, so lange können Sie danach gar nicht heiß duschen.

Es kann einen Tag dauern, ehe der Körper wieder seine normale Wärme hat.

Auch Ihnen droht im Winter das Hallenbad.

Das ist ein sehr trauriger Moment, ein harter Abschied von diesem Freiheitsgefühl, denn bis Mitte Oktober gehören einem die Seen ganz alleine. Es ist sicher der Grund, warum ich Kaltwasserschwimmer wurde: diese Zeit draußen möglichst auszudehnen. Denn nun beginnt eine ganz andere Logistik, Eintritt bezahlen, Ticket entwerten, einen Spind suchen, die Sachen wegschließen – und finde ich meinen Frieden mit den vielen Leuten im Becken?

Das Becken gibt Ihnen den Takt vor wie ein Metronom, 50 Meter hin, 50 Meter her, 50 Meter hin… Hilft das, um in eine Art Trance zu fallen?

Diese Taktung durch die Wände hat, sofern man nicht dauernd um seine Bahn kämpfen muss, etwas Meditatives. An einem guten Tag ist das wie eine Reise nach innen. Schwimmen in freien Gewässern ist mehr eine Außenreise. Im Heiligensee etwa sieht man immer wieder diese wunderschöne Uferlandschaft, ein Ruderboot, Enten, es ist wie Spazierengehen, man guckt und guckt, ich atme ja mit einem Dreierzug nach links und rechts, das hilft auch bei der Orientierung.

Ein Bad dagegen birgt Hindernisse. Damen mit Dauerwelle beschrieben Sie als „dümpelnde Duftbojen“.

Ich bin beim Kraulschwimmen leider mit den Schleimhäuten sehr nah an meinen Mitmenschen, deren Geschmack hab ich sofort auf der Zunge. Hat einer geraucht oder Knoblauch gegessen? Das ist zwar eine unerwünschte Information, aber das Wasser gibt sie weiter.

Sie kraulen, etwas anderes kommt nicht infrage?

Nein. Das Einssein mit dem Element ist beim Kraulen am massivsten. Man ist bis auf den Moment des Luftholens mit den Augen und dem Atem nur im und unter Wasser. Mehr im Wasser sein geht beim Schwimmen nicht – mehr wäre tauchen.

Brustschwimmer haben einen besseren Überblick über ihre Umgebung, Krauler sind Rowdys.

Der Vorwurf ist ungerecht, der regt mich wirklich auf. Im Nahkampf des Beckens ist es so: Rückenschwimmer geben die Verantwortung für den eigenen Navigationskurs und mögliche Kollisionen völlig an andere ab, und Brustschwimmer haben einen unverschämten Radius, sie treten einem die Gedärme aus dem Leib.

Wenn man Sie im Theater oder bei einer Lesung sieht, wirken Sie sehr gesellig. Schwimmen dagegen hat etwas Autistisches.

Diesen Grundwiderspruch lebe ich. Wie das Langstreckenschwimmen ist ja auch das Schreiben eine monomane Angelegenheit, eine Verabredung nur mit sich selbst. Kein Mensch auf der Welt hilft dir, keiner sagt dir, wann du fertig bist, du musst alles alleine zu Ende bringen. Doch ich bin auch leidenschaftlich Dramaturg, das ist ein sehr kommunikativer Beruf, der Zusammenarbeit mit vielen unterschiedlichen Leuten mit sich bringt. Ich brauche diese Balance zwischen dialogischer Arbeit und der Asozialität des Schreibens und Schwimmens. Nur mit Romanen und dem Wasser allein würde ich eingehen.

War Schwimmen für Sie stets verbunden mit Glück?

Nein. Ich habe mit 17 das Leistungssystem Schwimmen verlassen, das war die schwierigste Phase meines Leben. Es war klar geworden, ich erreiche nicht, was ich glaubte, erreichen zu müssen. Das Wachstum stagnierte und die Hoffnung, ich würde ein langer Kerl mit großen Schaufeln und Flossen, war dahin. Das Potenzial war ausgereizt. Ich bin dann einige Jahre gar nicht geschwommen, und als ich das erste Mal wieder eine Chlorbrille aufgesetzt habe, war ich erschüttert. Ich dachte, jetzt fängt das alles wieder an, die Metrisierung des Wassers, die Zeiten im Kopf, der Wettkampf… Das hat mich unfrei gemacht.

Das dauerte lange?

Bis ich 30 war und „Vom Wasser“ geschrieben hatte. Im Sommer, in freien Gewässern, ging es mir auch besser, doch im Schwimmbecken war ich sofort wieder in der alten Ordnung der Stoppuhr.

Wenn Sie heute nicht mehr auf Zeit schwimmen, was ist dabei Ihr Ziel?

Der Genuss ist, ich bin eine Stunde lang unerreichbar, keiner ruft mich an, ich muss mich um nichts kümmern, ich muss mir nichts mehr beweisen. Es geht nur um Bewegung, den richtigen Rhythmus zu finden und Geschmeidigkeit, um das Gefühl des Nachhausekommens in das Element Wasser.

Es gibt Menschen aus schreibenden Berufen, die erzählen, sie würden beim Joggen ganze Artikel oder Buchseiten im Kopf ausarbeiten und müssten die anschließend nur noch in den Computer tippen. Geht Ihnen das ähnlich?

Ich gehe nicht mit dem Vorsatz ins Wasser, etwas zu formulieren und anschließend tropfend auf Papier zu schreiben. Ich will schwimmen, und wenn dabei etwas passiert, ist es schön. Was sich da im Hirn abspielt, ist eher Traumarbeit als Schreibarbeit.

Literaturkritiker stellen bei Ihnen gern Analogien zwischen Schwimmen und Schreiben her. Von Ihnen selbst stammt der Satz: „Beides verlangt Beharrlichkeit und Hingabe.“ Fürs Briefmarkensammeln und Kegeln gilt das allerdings auch.

Schwimmen birgt wie Schreiben das Risiko des Untergangs. Ich hatte einmal ein langes Gespräch mit einem Marathonläufer über das Meditative und Repetitive, und er wollte nicht einsehen, dass Laufen und Schwimmen zwei vollkommen verschiedene Dinge sind. Ich sagte ihm, schau, wenn du nicht mehr kannst, dann setzt du dich auf den Boden und fängst an zu weinen. Wenn ich nicht mehr kann, ertrinke ich. Das ist der existenzielle Unterschied.

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