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Kultur: Irgendwo ist Afrika

Jenseits der Dramatik: Peter Brooks leises Welt-Märchen „Tierno Bokar“ bei der Ruhrtriennale in Duisburg

„Dieses Leben heißt loslassen“, lehrt Tierno Bokar, der als islamischer Gelehrter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter französischer Vorherrschaft im westafrikanischen Mali wirkte und nun zur zentralen Figur im jüngsten Stück des fast achtzigjährigen englischen Regisseurs Peter Brook wurde. Brook ist ja längst selbst ein Weiser des Theaters, der sich in der Kunst des Loslassens übt: Mit spektakulären Inszenierungen komplexer Dramen (Shakespeares „King Lear“, „Marat/Sade“ von Peter Weiss), hat er sich, damals noch bei der „Royal Shakespeare Company“, seinen Namen gemacht, hat sein berühmtes Manifest „Der leere Raum“ (1968) geschrieben, bevor er 1970 in Paris das „Internationale Zentrum für theatrale Recherchen“ gründete und zu einer Ästhetik der Einfachheit fand, die seither sein Schaffen prägt.

Verabschiedet hat Brook sich nicht nur vom herkömmlichen Bühnenbild, sondern von jeder Form der Künstlichkeit, der Theatralik, der Konvention. Seit 1970 sind Brooks Inszenierungen vor allem Auseinandersetzungen mit außereuropäischen religiösen Traditionen, in Persien, in Indien, in Afrika. Brook möchte das westliche Denken erneuern durch spirituelle Erfahrungen, die aus anderen, aus unverbrauchten Kraftquellen stammen.

Auf dem Gelände des heutigen Landschaftsparks Duisburg-Nord, wo „Tierno Bokar“ im Rahmen der Ruhrtriennale aufgeführt wird, wurde einmal Energie gewonnen. Die Gebläsehalle ist ein weitläufiges Areal aus Kesseln, Rohren, Armaturen, durch das die Zuschauer in eine Halle geführt werden, deren längliche Architektur überraschenderweise an ein Kirchenschiff erinnert. Im oberen Teil der Halle, in der Apsis sozusagen, sind die Requisiten aufgebaut, ein Baumstumpf, ein Bambusteppich, ein Teekessel, ein Tablett mit Sand, viel mehr ist es nicht. Rechter Hand der Platz für die beiden Musiker, die mit einfachen Schlag- und Saiteninstrumenten die Szenen untermalen.

Die Schauspieler, meist afrikanischer oder asiatischer Herkunft, müssen in der Gebläsehalle weite Distanzen überbrücken. Keineswegs tun sie es durch Lautstärke oder große Gesten. Im Gegenteil: Das Spiel ist minimalistisch angelegt, die Handlung vollzieht sich in kurzen Abläufen. Oft werden Rollen und Kostüme gewechselt. Der Erzähler ist dabei eine der wichtigsten Figuren: Er stellt den Kontakt zum Publikum her, das er, mit einer stillen Heiterkeit, direkt anspricht. So, denkt man sich, könnte die Geschichte tatsächlich irgendwo auf einem Dorf in Afrika erzählt werden, nur dass die Zuschauer dann im Kreis um die Szene herumsäßen.

Der Ruhrtriennalen-Europäer muss sich umstellen. Die einzelnen Episoden sind so knapp gehalten, dass sich aus ihnen kaum eine landläufige „Dramatik“ entwickeln lässt. Wenn es zum Konflikt kommt, wie im Streit um eine silberne Teekanne, in den sich der französische Kommandant einmischt – nicht um zu schlichten, sondern um zu forcieren –, dann spitzt Brook diesen Konflikt nicht zu.

Der Kolonialherr hat etwas von einer Kasperlefigur, etwas Hohles und Hölzernes, das sich von der gemessenen Freundlichkeit der Schwarzen unterscheidet. Brook versteht sich nicht als Regisseur, der Spannungen effektvoll strukturiert, sondern als eine Art Schauspieler-Animateur, der auf Natürlichkeit und Schlichtheit achtet und nicht auf Virtuosität. Der Darsteller des Tierno Bokar, Sotigui Kouyate (einst der Prospero in Brooks „Sturm“), ein großgewachsener bärtiger Mann in einem weissen Umhang, der eine Gebetskette durch seine Finger rollen lässt, spricht eher leise, fast nachlässig, als hätte er nichts Besonderes zu sagen.

Die Botschaft ist ja auch denkbar einfach: ein Plädoyer für Toleranz und Gewaltfreiheit. Die erzählte Geschichte basiert auf einem Roman von Amadou Hampaté Ba, „Leben und Lehre des Tierno Bokar“. Der Konflikt um die Frage, ob man ein bestimmtes Gebet elf- oder zwölfmal sprechen soll, mag für ein westliches Denken nicht leicht nachvollziehbar sein. Es ist nicht nur Ignoranz, sondern geradezu Zynismus, wenn die französischen Kolonialisten bewusst den Konflikt schüren und die Gewalt eskalieren lassen, an der Tierno Bokar letztlich zugrunde geht. Peter Brook hat erklärt, er habe beim Inszenieren oft an Bagdad gedacht. Also an die Unfähigkeit der Besatzer, sich auf Mentalitäten einzustellen, die sie nicht verstehen. Ein politisches Pamphlet ist aus „Tierno Bokar“ trotzdem nicht geworden. Die Parallelen bleiben implizit.

Die Lehre überlebt, und die Form steht in ihrem Dienst. Es gibt keine szenischen Zuspitzungen, auch keine genialen, in ihrer Einfachheit und Suggestivität schlagenden Bilder, wie man sie etwa noch in der „Sturm“-Inszenierung von 1990 sehen konnte. Auf Brillanz muss der Besucher der Ruhrtriennale verzichten. Entschädigt wird er durch die pure Menschlichkeit einer Aufführung, die auf den ersten Blick die Naivität eines Märchens, auf den zweiten die spirituelle Weisheit einer uralten Legende besitzt.

Täglich bis zum 11., vom 13. bis zum 15. sowie am 17. Juli.

Martin Krumbholz

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