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„Vergessen ist auch Verrat“. Die 1943 in Moskau geborene Berliner Schriftstellerin Irina Liebmann.

© Doris Klaas-Spiekermann

Irina Liebmanns neuer Berlin-Roman: Die Große Hamburger Straße - Zentrum des Glaubens

Katholisches Krankenhaus, jüdischer Friedhof, protestantische Kirche: Irina Liebmann porträtiert die Große Hamburger Straße in Berlin-Mitte.

Kann eine Straße wispern, stöhnen, seufzen? Die Große Hamburger Straße in Berlin-Mitte kann das! Irina Liebmann lässt uns in ihrem dritten Berlin-Roman (Schöffling, 240 S., 22 €.) das frühere Leben dieser so besonderen Straße hören und sehen.

In Schichten liegt die Vergangenheit hier übereinander, mit jedem Schritt beginnt ein neues Abenteuer: „Diese Straße! Ihr Krankenhaus ist katholisch, ihre Kirche protestantisch, und der uralte Friedhof, den es hier einmal gegeben hat, der war jüdisch gewesen. Vollkommen unreligiös und als junge Frau, die an Krankheiten nicht einmal denken will, waren das leere Wörter für mich, und doch war ich stehen geblieben. Ich hatte eine Straße des Glaubens betreten. Ein Zentrum des Glaubens sogar, denn wenn es jemals ein Zentrum des Glaubens gegeben hat in Berlin, dann war es hier. Das Zentrum des Unglaubens war das Café.“

Warum gerade diese kurze, trichterförmig Straße sie über Jahrzehnte fasziniert, weiß Liebmann anfangs selbst nicht. Doch je mehr sie erfährt, desto neugieriger wird sie. Die Geschichte der Stadt scheint sich hier so zu verdichten, dass der Ort selbst das Kommando übernimmt und die Schritte der Erzählerin lenkt. 

Moses Mendelsohn war hier begraben

Wie ein Sturm, der über den schmalen Gehweg fegt und sie zum Beispiel immer wieder in das Haus Nummer 17 drängt, ein kleines, altes Haus mit Blick auf einen Park, in dem früher ein jüdisches Altersheim stand. Dahinter befand sich ein Friedhof, mit halb in den Boden gesunkenen Grabsteinen, ähnlich aus der Zeit gefallen wie der alte jüdische Friedhof in Prag.

In der Mauer am Rand des Parks sind alte Grabplatten eingelassen, die Liebmann fotografiert hat, das Foto ist im Buch zu sehen. „Misstraut den Grünanlagen!“, hatte der Schriftsteller Heinz Knobloch über diesen Park geschrieben.

Moses Mendelssohn war hier begraben, er erhielt nach dem Krieg ein neues Grab: Die SS hatte den Friedhof zerstört. Auch das jüdische Altersheim gegenüber der Nummer 17 steht nicht mehr. Liebmann meint eines Abends die Stimmen der Bewohner zu hören. „Geh in dein eigenes Leben“ sagen diese, und sie denkt an ihre Großeltern, die 1942 wie alle Menschen hier deportiert wurden.

Im Café, wo sie Eva und Manfred trifft, will sie darüber nicht reden. Alle wissen, was hier früher geschah, aber sie haben zu viel mit ihrem eigenen Leben zu tun: mit der Tristesse der DDR, der Sehnsucht nach westlichem Glanz und Wohlstand. Anfang der achtziger Jahre entdeckte Liebmann dieses Café, der kleine Stammtisch wurde ihr Anker im Wirbel der Empfindungen, den die Recherche und das Erzählen darüber in ihr auslösten.

Liebmann traf noch um 1900 geborene Bewohner der Häuser

Diese gelungene Mischung aus Empathie und Genauigkeit, aus Verstörung und dem Glück des Sehens machen den Reiz ihres Romans aus. Liebmann thematisiert ihr eigenes Verdrängen genauso hartnäckig wie das der um 1900 geborenen Bewohner der Häuser, von denen sie bei ihren ersten Recherchen noch einige traf.

Begeistert präsentiert sie Ihren Stammtischfreunden Funde aus dem Archiv der benachbarten Sophienkirche. Etwa die Geschichte von Franz Pretzel, der eine Fabrik für Treibriemen im Haus Nr. 32 eröffnete und immer für Streit sorgte mit seinen hochfliegenden Bauplänen.

Die Zeit wird durchlässig in diesen Recherchen. Eines Abends glänzt das Schloss Monbijou, in dem der Dichter Adelbert von Chamisso als Page diente, im Mondlicht.

Doch am nächsten Tag gähnt als Fußabdruck der Zeit eine riesige Grube in der Straße: Eine Baracke stand dort, die nach dem Krieg die Wohnungsverwaltung der DDR beherbergte. Nur dieses Loch hat sie damals fotografiert, die später errichteten Häuser waren in ihren Augen „nichts wert“ – wie die ganze späte DDR. „Vergessen ist auch Verrat“ denkt Irina Liebmann, als sie 2019 wieder in der Großen Hamburger Straße steht.

Nicole Henneberg

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