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Kultur: Ironie und Schicksal

Von Lübeck nach Pacific Palisades: Wie Thomas Mann im amerikanischen Exil zum Weltbürger wurde

Man kennt das Foto: Thomas Mann im Berliner Hotel Adlon sitzend, ein Page bringt ihm eine Depesche, vielleicht von der Preußischen Akademie der Künste nebenan, deren Sektion für Dichtkunst er bei ihrer Gründung im Jahre 1926 mit einer Rede bedacht hatte. Der Großschriftsteller im Bild, nie aus dem Rahmen fallend, beständig nach Möglichkeiten des Repräsentierens suchend, weltmännisch im Auftreten, von Hause aus kosmopolitisch-feinsinniger veranlagt als sein auf diesem Gebiet einziger Rivale unter den damaligen Dichtern: Gerhart Hauptmann, dem Thomas Mann noch 1922 bescheinigt hatte, „kraft seiner echten Popularität zu fürstlich-repräsentativer Stellung aufgerückt zu sein“ als „geistiges Haupt des nachkaiserlichen Reiches“. Aber aus diesem schlesisch-vierschrötigen Populisten und Goethe-Darsteller in republikanischer Zeit wurde in Thomas Manns Augen gerade in jener Schaffensphase der Mynheer Peeperkorn des „Zauberberg“, eine Gestalt, die Weltbürgerlichkeit mit dem vergröbernd großsprecherischen Habitus eines „Kolonial-Holländers“ verwechselt.

Die Frage, ob seine Kunst auch genügend Welt enthalte, bedrängte Thomas Mann von Anbeginn. Selbst sein „welthaltigster“ Roman, „Der Zauberberg“, in dem Hofrat Behrens die tuberkulosekranken Repräsentanten der alten Welt zu einem letzten Empfang vor dem Ersten Weltkrieg bittet, entrückt die Handlung dem gewöhnlichen Leben. Auch das Lübeck der „Buddenbrooks“ war nicht gerade große Welt, von der tiefen deutschen Provinz in „Königliche Hoheit“, „Lotte in Weimar“ und „Doktor Faustus“ zu schweigen. Etwas Rom-Kolorit brachte in später, wenngleich stark reduzierter Fortsetzung der Venedig- und Adria-Atmosphäre „Der Erwählte“, und eine gewisse Paris- und Lissabon-Ahnung vermittelt zuletzt „Felix Krull“. Der Wille zur Welt verwirklichte sich vor allem im Rückgriff auf den Mythos – in „Joseph und seine Brüder“, aber auch in der indischen Legende „Die vertauschten Köpfe“. Die Welt, die er wollte, hatte Teil am „Segen von oben“ und an den Tiefen im faustischen Reich der „Mütter“.

Welterfahrung im politisch-gesellschaftlichen Sinne erzwang in seinem Falle, welch bittere Ironie, erst das Exil. Lange hatte Thomas Mann an der Vorstellung festgehalten, daß es nur einen national verankerten Kosmopolitismus geben könne. In den ersten Jahren der Weimarer Republik schreibt er in einem Versuch über nationale und internationale Kunst, dass es den „reinen, den absoluten Kosmopolitismus nicht geben“ könne. „Ein solcher wäre ohne Substanz, Geist ohne Fleisch, und also kein Leben.“ Weit war der Weg, der ihn schließlich nach Hamburg führte, wo er im Jahre 1952 vor Studenten sagen konnte, dass sich das Deutsche europäisieren müsse, wenn es international wieder glaubhaft, ja, tragbar werden wolle. Dass es jedoch im Deutschen eine antideutsche (bis zum Selbsthass oder zur Selbstverleugung steigerungsfähige) Tendenz zur Internationalisierung gebe, wurde Thomas Mann nie müde zu betonen. Bis zu seiner Exilzeit konnte er diesen Umstand noch beklagen; später hielt er diese Eigenschaft des Deutschen für das wichtigste Gegengewicht zu seiner Selbstbarbarisierung im Hitlerismus.

Noch in Thomas Manns letztem Text, dem Geleitwort zu einer Auswahl der „schönsten Erzählungen der Welt“, kam er auf diesen Gedanken zurück: „Denn der deutsche Geist war immer, oder doch zu seinen besten Zeiten, universell gestimmt, nach Aufnahme und Verarbeitung des Universellen begierig.“

Als im eigentlichen Sinne weltbewusst und weltbezogen erwies sich Thomas Manns essayistisches Werk, das den „Forderungen des Tags“ ebenso zu genügen versuchte wie dem kosmopolitischen Anspruch der literarischen Bezüge. Dabei gibt er nach 1918 zähneknirschend zu, dass sich nun unwiderruflich Napoleons Wort erfüllt habe, nach dem fortan die Politik das Schicksal sei. Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges habe gezeigt, so Thomas Mann, dass selbst die Kunst sich dem Politischen nicht länger entziehen könne. Und doch sollte er sein Werk mit dem vollendeten Fragment „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ abschließen. Diese „Bekenntnisse“ sind tatsächlich zutiefst unpolitische Betrachtungen. Krull führt ein Leben voll verspielter Täuschung und heiterer Betrügerei. Allenfalls in seinem spektakulären, alle Vergangenheit unbekümmert hinter sich lassenden Aufstieg mag man eine Parodie des Wirtschaftswunderlandes erkennen, auch wenn eine solche Deutung des Romans reichlich bemüht erschiene.

Weltumspannend waren Thomas Manns Korrespondenz, sein Tagebuch, sein spätbürgerliches Bewusstsein, welches besonders das Endzeitliche in der Kultur zu reflektieren bereit war. Dreh- und Angelpunkt seines Weltverständnisses blieben freilich Wert und Funktion des Deutschen, dessen beispiellose Kulturhöhen und verbrecherischer Verrat am humanistischen Leitideal. Kaum verwunderlich, daß „letzte Fragen“ zu seinen ersten Anliegen gehörten, die Vorstellung etwa, der Letzte zu sein, der das Erbe Goethes und Wagners noch einmal zu verkörpern und literarisch umzusetzen verstand, sowie einer, der als letzter Kulturbürger noch wusste, was und wie ein in sich schlüssiges Werk zu sein habe.

Thomas Manns Anspruch an sich selbst und andere hatte etwas Gezwungenes. Wie sein Gustav von Aschenbach sah er sich als „Leistungsethiker“ im Dienst an der deutschen Sprache, die ihn noch 1954 zu einer Stellungnahme gegen die Absurditäten einer neuen „Ortografi“ veranlasste. Darin heißt es: „Mich stößt die Brutalität ab, die darin liegt, über die etymologische Geschichte der Worte rücksichtslos hinwegzugehen.“ Überhaupt misstraute er vermeintlichen Vereinfachungen. Die sprichwörtliche Komplexität seines Satzbaus spiegelte tatsächlich sein Weltverständnis, das auf subtilen Differenzierungen aufgebaut war.

Zu Recht erkannte er im Reduktionismus die Wurzel aller Ideologie. Denn das Ideologische gebraucht formelhaft einsetzbare Klischees, parolenhaft-plakatives Argumentieren, und gerade das wollte Thomas Mann bloßstellen. Er wagte das Subtile im Zeitalter des vergröbernden Ideologismus. Den Wert von weisheitserfüllten Vereinfachungen sah er im Grunde nur in der gedanklichen Klarheit eines Goethe und eines Fontane.

Letzte Dinge – am Beispiel des alten Fontane hatte Thomas Mann noch vor seiner Arbeit am „Tod in Venedig“ beschrieben, was sie ihm bedeuten. An Fontane explizierte er, dass „erst Todesreife wahre Lebensreife“ sei, und gern zitierte er dessen im Nachlass gefundenen Spruch: „Leben; wohl dem, dem es spendet/Freude, Kinder, täglich Brot,/Doch das Beste, was es sendet,/Ist das Wissen, das es sendet,/Ist der Ausgang, ist der Tod.“ Was der Prosa Fontanes jedoch abgehe, bezeichnete er als das „ahndevoll Musikalische“, also genau das, was ihm für den Weltbezug seines eigenen, an Leitmotiven orientierten Erzählens als wesentlich vorkam.

Wie Wagner im „Ring des Nibelungen“ wollte er eine eigene Welt entwerfen, bevölkert vom biblischen Traumdeuter Joseph und faustischen Komponisten Leverkühn, von Sterbenden und Zauberkünstlern. Wie Goethe wollte er „ernste Scherze“ treiben können, was ihn selbst davor nicht haltmachen ließ, in Hitler einen teuflischen „Bruder“ zu sehen. So bezeichnet wohl Thomas Manns Versuch „Bruder Hitler“ (1939) den prekären Höhepunkt deutschsprachiger Essayistik im 20. Jahrhundert und das Gewagteste, was an politisch-literarischen Äußerungen dieses Schriftstellers vorliegt.

Laut Robert Musil ist der Essay Ausdruck eines Bewusstseinszustandes. Was Thomas Mann in „Bruder Hitler“ vorführte, war ein Bewusstsein, das sich eingestehen muss, vorerst mit Ironie nicht mehr weiterzukommen. Mit tollkühner Donquichotterie argumentiert hier Thomas Mann, wenn er vermutet, dass Hitler sein Österreich nur deswegen dem Reich einverleibt habe, um Wiens als der Weltmetropole der Psychoanalyse habhaft zu werden. Sein Marsch auf Wien habe im Grunde „dem alten Analytiker“ Freud gegolten, „seinem wahren und eigentlichen Feinde, dem Philosophen und Entlarver der Neurose, dem großen Ernüchterer“, wogegen der das Analytische hassende Asket Hitler den Pseudorausch gebraucht habe. Dessen verkorkstes Künstlertum habe sich auf die Manipulation oder Verführung der Massen gerichtet, wobei sich Thomas Mann fragte, ob nicht auch er, der Autor des „Zauberberg“, am Verführen seiner Leser Gefallen habe.

„Was ist der Künstler! – Diese Mischung aus Lucifer und Clown“, so steht es in einem Brief Thomas Manns aus dem Jahre 1910. Er ist im Goethe’schen Sinne ein „Weltkind in der Mitten“, das sich seinen Teil über den Stand der (letzten) Dinge denkt, voll schuldiger Unschuld, Weltschmerz und Gestaltungsbedürfnis. Wir haben reichlich Gründe, diesen fünfzigsten Todestag Thomas Manns zum Anlass zu nehmen, um über unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst nachzudenken – und das vielleicht so: mit dem Augenzwinkern eines Felix Krull die abgründigen Tiefen im „Doktor Faustus“ ermessend.

Der Autor lehrt Germanistik an der Queen Mary University of London. Im Verlag Artemis & Winkler ist soeben seine Studie „Thomas Mann – Der Zauber des Letzten“ erschienen.

Rüdiger Görner

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