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Kultur: Islamgegner unter der Lupe

Doug Saunders über den „Mythos Überfremdung“.

Wir schreiben das Jahr 2050. Das Europa der Aufklärung existiert nicht mehr. Die muslimische Bevölkerungsmehrheit unterstützt fast ohne Ausnahme radikale Islamisten, die Land für Land die Macht an sich gerissen und Theokratien errichtet haben. Christen leben als Menschen zweiter Klasse, Frauen tragen die Burka. Derartige Fantasien beherrschen das Denken und Fühlen der Islamfeinde, die es inzwischen in nahezu allen westlichen Ländern gibt. Zahlreiche Bestseller und Internetseiten schildern in düsteren Farben, wie ein expansiver Islam das von Selbstzweifeln geschwächte Europa in ein mittelalterliches „Eurabien“ verwandelt.

Der kanadisch-britische Journalist Doug Saunders hat aus den Einwanderervierteln Dutzender westlicher Großstädte sowie aus Ägypten, Syrien, Afghanistan, dem Iran und anderen Ländern über Gräueltaten von Islamisten berichtet. Er versteht, dass sich viele Menschen besorgt die Frage stellen, was die Muslime, die ihnen im Alltag begegnen, über den Terrorismus, die Frauenverachtung und den Judenhass der Extremisten denken. Sein Buch „Mythos Überfremdung“ ist eine umfassende, differenzierte und überzeugende Antwort auf diese wichtige Frage. Mit seinem Rechercheteam hat er „so viel wissenschaftliches Material wie möglich herangezogen, um eine detaillierte, ehrliche, Punkt für Punkt vorgehende Faktenüberprüfung vorlegen zu können“.

Saunders nimmt die bedeutendsten Werke der Islamgegner unter die Lupe und geht ausführlich auf jede ihrer Hauptthesen ein. Er belegt, dass sich die religiösen, kulturellen und politischen Überzeugungen der Muslime in den meisten westlichen Ländern teilweise merklich, aber nicht dramatisch von denen ihrer Mitbürger unterscheiden. Die unleugbaren kulturellen Gräben lassen sich schon deshalb nicht mit den Lehren des Islam erklären, weil sie von sehr verschiedener Art und Tiefe sind. So sind Muslime in Großbritannien weit konservativer als Nichtmuslime, in Frankreich dagegen kaum. In beiden Ländern identifizieren sie sich jedoch überdurchschnittlich stark mit den demokratischen Institutionen. Die amerikanischen und kanadischen Muslime haben viel geringere Integrationsprobleme als die europäischen. US-Muslime sind sogar deutlich besser gebildet als der Bevölkerungsschnitt. Experten führen jedoch die besonderen Schwierigkeiten der Muslime in Europa auf weitverbreitete Diskriminierung und gravierende Mängel der Wirtschafts- und Bildungssysteme zurück. Umfragen belegen den Integrationswillen der großen Mehrheit.

Aber wie viele Muslime bejubeln islamische Gewaltakte? Der Aussage: „Gewalt gegen Zivilisten ist manchmal oder oft gerechtfertigt“, stimmten acht Prozent der US-Muslime, aber 24 Prozent aller Amerikaner zu. In Deutschland, Großbritannien und Frankreich glauben Muslime und Nichtmuslime etwa gleich häufig, dass Gewalt gegen Zivilisten, die Todesstrafe und Ehrenmorde moralisch akzeptabel seien. Außerdem zeigen tiefgehende psychologische Untersuchungen, dass islamistische Militante nicht von religiösen, sondern von politischen und persönlichen Motiven geleitet werden.

Die Islamfeinde fürchten den Kinderreichtum der Muslime als die Geheimwaffe eines schleichenden Dschihad. Saunders zitiert Studien, denen zufolge der Bevölkerungsanteil der Muslime in Europa bis 2030 auf etwa sieben Prozent steigen dürfte. Die islamische Welt erlebt sogar einen der schnellsten Geburtenrückgänge der Geschichte. Der Iran und der Libanon haben bereits niedrigere Geburtenraten als Frankreich und Schweden. Für viele Wissenschaftler ein Indiz, dass Globalisierung und Migration die Modernisierung der islamischen Länder fördern.

Saunders zieht erstaunliche Parallelen zwischen der heutigen Islamfeindschaft und der Hysterie, mit der die meisten Einheimischen auf die katholischen und jüdischen Einwanderer reagierten, die ab 1880 in die britischen und nordamerikanischen Großstädte strömten. Die seltsam gekleideten Neuankömmlinge brachten vormoderne Werte aus Süd- und Osteuropa mit sich. Obwohl sie diese bald hinter sich ließen, unterstellte man ihnen jahrzehntelang, die Zerstörung der freien Welt zu planen.

Wir schreiben das Jahr 2050. In den meisten muslimischen Ländern haben sich offene Gesellschaften entwickelt, die eine religionsübergreifende Weltzivilisation bereichern. Das ist, folgt man Saunders, kein naiver Traum. Michael Holmes

Doug Saunders:

Mythos Überfremdung. Eine Abrechnung. Blessing Verlag, München 2012. 256 Seiten, 18,99 Euro.

Michael Holmes

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