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Kultur: Isoldes liebe Not

Mit Wagner im Labor: Christoph Marthalers „Fruchtfliege“ an der Berliner Volksbühne uraufgeführt

Am Ende soll doch alles nur Theater gewesen sein. Mehr noch: Oper, große Oper und sogar französisch, eine berüchtigte Légende dramatique. Die ganze schöne Qual, der ganze geysirhaft sprudelnde Irrsinn, all die vielen mäandernden Albdrücke, die zuerst das Herz zersetzen und dann das Hirn. Das Gefühl fürs Gefühlsechte, sagt dieser rollende, grollende, grummelnde Bilderbogen, haben wir verloren. Die romantische Liebe, ach, ist uns längst gestorben. Weil sie mit keiner DNA-Kette je zu fassen sein wird; und weil weder wir der Musik glauben noch diese uns, weil Verdi, Mozart, Puccini und Wagner, gerade Wagner nichts mehr zu sagen haben. Verdorrte Helden, peinliche Pathetiker allesamt. Doch es kommt ganz anders.

Sieben Choristen und ein Korrepetitor (unerschöpflich vielseitig in seiner Anschlagskultur und auch als Schauspieler, als schlaksiger Weltfremdling eine Wucht: Stefan Wirth) schlagen die Zeit tot. Beißen in staubige Kleidungsstücke, beschnüffeln einander, ziehen sich langsam aus und noch viel langsamer wieder an, hocken stier und stumm herum, singen und summen, grölen und jodeln, zertrampeln Streichinstrumente, halten Vorträge, schütteln Reagenzgläser, sind allzeit und mit jeder Faser ihrer weißen Kittel Ausgeburten, Gebeutelte, Hingegebene der Musik. Beneidenswert, jammervoll, lustig, nervtötend. Anna Viebrock hat ihnen für Christoph Marthalers Uraufführung von „Die Fruchtfliege“ die Chor-Garderoben aus dem Pariser Palais Garnier auf die Berliner Volksbühne gestellt. Ehrwürdiges Holzgestühl, flackernde Kugellampen, hohe Schränke. Raumgewordene Patina. Die perfekte Welt von gestern, in der einem allerdings die Haare wie Einstein zu Berge stehen und es aus den Ecken schon mal qualmt.

Nun schließt gerade das Marthaler-Repertoire den eigenen Abnutzungsgrad seit jeher mit ein. Es gibt nichts, was sich nicht unwiderruflich zum letzten Mal ereignet, als stürbe es im nächsten Moment an Mattigkeit und an der Selbstauszehrung des Theaters ganz im Allgemeinen. Gleichwohl wirkt dieser Abend stiller als andere, mürber auch, in einem fast besorgniserregenden Sinne melancholisch. Als trügen die Figuren nicht unbedingt sich selbst, aber doch etwas zu Grabe. Als feierten sie tausend große Tode.

Das Desaster ums Zürcher Schauspielhaus, die Erfahrung Bayreuth – dies alles hat Christoph Marthaler sichtlich zugesetzt. Dabei ist die eigene Kunst dem eigenen Schmerz bisweilen nicht der beste Tröster. Und Ruhm macht keineswegs erfinderisch. Darin übrigens gleicht das Marthaler-Schicksal dem Schlingensief-Schicksal, und zwar aufs Haar. Wo dieser sich jüngst mit „Kunst und Gemüse“ das Bayreuther „Parsifal“-Leid von der Seele schrie, da verarbeitet Marthaler nun seinen sommerlichen „Tristan“. Psychoanalyse im Selbstversuch. Die Volksbühne als Zauberberg der Bayreuther Festspiele. Zwei Regisseure in der Reha, zwei verloren geglaubte Söhne, endlich daheim. Vom Trauma der Unantastbarkeit des Werks und der Heiligkeit der Musik erlöst, finden beide am Rosa-Luxemburg-Platz zu einem Musiktheater, wie man es sich unprätentiöser, wahrhaftiger und berührender nicht wünschen könnte. Weniger Stimme, mehr Gestus, pardon, scheint heute ganz einfach mehr Oper zu sein.

Insofern hätte es die vielen Brecht’schen Brechungen, die Marthaler dramaturgisch bemüht, gar nicht gebraucht – die eingestreuten, eingeblendeten Texte von Konrad Lorenz und zur Genforschung, überhaupt die ganze Laboratoriums-Metaphorik. Wo der Mensch dem Menschen in seiner sinnlichen Anschauung abhanden kommt, da mag die Fruchtfliege als williges Forschungsobjekt und letzte Rettung dienen. Dass den Darstellern bisweilen die Augäpfel fruchtfliegengleich glänzend aus den Köpfen treten, spricht gleichermaßen für ihre Verrücktheit wie für ihre Inbrunst. Je tiefer man in eine Sache eindringt, desto mehr verwandelt man sich ihr an, desto stärker trübt sich der Blick? Keine wirklich ermutigende Diagnose, weder für die Oper noch für die Wissenschaft, aber die, wie gesagt, sind hier beide nicht so wichtig.

Sieben Chorsänger und ein Korrepetitor: So liest sich das Geschehen von seinem Ende her, wenn eine Inspizientinnen-Stimme „Wissenschaftler“ und „Wissenschaftlerinnen“ zum Auftritt ruft. Irgendwo im Off, aha, wird Hector Berlioz’ „La damnation de Faust“ gegeben, ein paar Takte Pandämonium aus dem vierten Akt noch, leere Bühne, dann Blackout und Schluss.

Fast zweieinhalb Stunden pausenloses Theater im Theater also, Theater ums Theater und Warten auf den letzten Einsatz. So lose diese Klammer, so virtuos strickt sich Christoph Marthaler daraus ein Stück, sein Stück über Liebe und Tod, Nacht und Tag, Wahn und Witz, Verrat und Begehren. Es ist die musikantische Leichtigkeit dieses Abends, die berückt, dieses Nicht-mehr und Noch-nicht – und sein untrügliches, regelrecht mozartisches Gespür dafür, dass jede Lächerlichkeit, noch die dümmste, albernste, unser Erbarmen verdient. Dass das Ensemble (durchweg großartig: Susanne Düllmann, Olivia Grigolli, Winfried Wagner) sich zu Tschaikowskys Klavierkonzert – rumms, rumms – in eine zackige Choreografie wirft, markiert hier gewissermaßen den marthalerischen Normalfall. Selbst Matthias Matschkes herrliche Soli als berstendes Affektbündel (der Mann könnte als Countertenor durchgehen! als Geiger!!) bedienen eher noch das Typische, Schabloneske. Wenn Josef Ostendorfs Leibesfülle freilich, bodenlang in Kleinkariertes gewickelt und mit faulen Zähnen im Gesicht zu Lloyd Webbers „Music of the night“ ansetzt (auf Deutsch und fabelhaft gesungen), dann ist das nicht nur zum Brüllen komisch, sondern auch zum Heulen scheußlich. Marthaler denunziert nicht, er zeigt, wie armselig wir sind, hüben wie drüben.

Ob sich nun das Herzduett aus Mozarts „Così“ in Puccinis „Wie eiskalt ist dies Händchen“ ergießt, ob Schuberts „Ständchen“ gejodelt oder Schumanns „Frauenliebe“ in Unterhosen gesungen wird – die bunt gesprenkelte Musik-Melange kennt nur ein Trachten: Wagners „Tristan“. Wie Blasen in einem Strudelteig platzt allüberall Isoldes Liebestod hervor, so lange, bis Bettina Stucky und Ueli Jäggi sich aufeinander stürzen, wolllüstig schnaufend quer über die Bühne rollen – und sich an einem Apfel gütlich tun. Ueli Jäggi ist es auch, der zum „Tristan“ mittels zweier Wintermäntel einen vollendeten Pas de deux aufführt, mit sich küssenden Krägen, mit Ärmeln, die in fremden Taschen stecken, mit pastoraler Leichenbittermiene. Denn plötzlich sind die Mäntel tot, verdorben wie Tristan, wie Isolde, und werden in einem gläsernen Mausoleum aufgebahrt.

Die „Rosenkavalier“-Walzer sind es, die die Figuren aus ihrer Trauer-Starre lösen, verwundert, verwirrt stürzen sie in ihr Fruchtfliegenforscherleben zurück. Ovationen für einen freundlich befreit lächelnden Christoph Marthaler.

Christine Lemke-Matwey

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