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Kultur: Ist es wahre Liebe, uhuhuu?

Als der Nachtpilot zur Dämmerungsstunde vor dem Berliner Ensemble landet, am Ufer der glänzenden Spree, ahnt er nicht, dass ihn dieser Abend der kapitalen Zerstreuungen auf die Suche nach dem Sinn des Lebens führen soll. Verspätet zwängt er sich ins goldbestuckte Seitenfoyer des Theaters: unter ein Theaterfamilienauditorium, das aktuell weniger am Sinn des Lebens interessiert scheint als an der grauen Dramaturgen-Eminenz des Hauses, Hermann Beil, welcher befrackt und im Märchenton exzentrische Miniaturen des Dichters Thomas Bernhard rezitiert.

Als der Nachtpilot zur Dämmerungsstunde vor dem Berliner Ensemble landet, am Ufer der glänzenden Spree, ahnt er nicht, dass ihn dieser Abend der kapitalen Zerstreuungen auf die Suche nach dem Sinn des Lebens führen soll. Verspätet zwängt er sich ins goldbestuckte Seitenfoyer des Theaters: unter ein Theaterfamilienauditorium, das aktuell weniger am Sinn des Lebens interessiert scheint als an der grauen Dramaturgen-Eminenz des Hauses, Hermann Beil, welcher befrackt und im Märchenton exzentrische Miniaturen des Dichters Thomas Bernhard rezitiert. Die Bühne ist eng, das Rotweinglas am Pult ist halbvoll. Die Lesung heißt „Der Stimmenimitator. (Wahrscheinliches, Unwahrscheinliches)“. Scheinwerfer blenden den Piloten, der im spitzen Winkel des schmalen Raumes, nicht weit von dem fiedelnden Pianisten hockt. Violinzirpen und schräge Akkorde konterkarieren die Texte. „Der Stimmenimitator konnte die eigene Stimme nicht imitieren“, sagt Beil. Und übermittelt Episoden aus einer skurrilen Welt, unter Verwendung des süddeutschen Plusquamperfekts, das Gemächlichkeit signalisiert: „Er schoss sich im Gerichtssaal in die linke Schläfe, zum Entsetzen aller Anwesenden. Er war augenblicklich tot gewesen.“ Von Affen im Zoo, die Futterspenden auf den Besucher zurückschmeißen, berichtet der graugelockte Rezitator; von dem Italiener, der mit einer Schaufensterpuppe lebt; von dem Dramatiker, der sein Publikum, weil es an falschen Stellen lacht, mit dem MG niedermäht. „Viel tausendmal der alte Blick durchs Fenster in mein Weltenstück“, intoniert er mit kaum zittriger Stimme. „Im Keller weint ein alter Mann, weil er kein Lied mehr singen kann.“ Lebenserfahrungen verschenkt er, im Rhythmus Bernhardscher Relativsätze schwingend: dass man beim Tanzen nie ans Tanzen denken dürfe. Dass der Staatsdienst jeden vernichte, der in ihn eintritt. Er beschreibt Menschen in der Gaskammer. „Es richtet der Richter, bis er nicht mehr richtet“, rezitiert der Rezitator. „Es dichtet der Dichter, bis er nicht mehr dichtet.“ Eine barocke Kadenz erklingt, als schrilles Resümee. Westflug, nach Charlottenburg.

Im Soultrane an der Kantstraße, das neben den Schaufenstern eines Design-Kaufhauses seine Gäste mit existenzialistischen Fotos legendärer Sänger und Instrumentalisten anlockt, hängen Gongs unter der Decke. Am Eingang ein Empfangsgirl in Weiß: Rolli und Stretchhose. Mitten im Weg die monströse Kommandobrücke der Tontechniker. Rote Wände, weit geschwungener Tresen, blau erleuchtete Flaschen, schwarze Stühle, Granitsäulen. An den Tischen Frauenpaare, ein Steuerberater mit seinem Kunden, ein Yuppie-Duo, ältere Touristen. Auf der Bühne spielt die Hausband Standards. Das Lokal funktioniert als kulinarische Nebenspielstätte des Jazzclubs A-Trane um die Ecke: eine mutige Eröffnung, nachdem an diesem Ort drei andere Edelgastronomen kurzzeitig den Kochlöffel haben abgeben müssen. Man serviert Gebrauchsmusik zum Feierabend. Das Keyboard gluckst, der Drummer mit dem Mützchen raschelt und poltert. Im Strahl der Spots kringelt sich Rauch. Die Gitarre jault. Der Kopf des Schlagzeugers wackelt, als purzele er gleich herab. An einigen Tischen wird der Takt geklopft. Neben der Bühne sitzt ein aschblonder Twen beim Bier, das Kinn in der Hand, schaut zur Bühne, zu den Frauen, hierhin, dorthin. Das zierliche Empfangsgirl durchquert mit einem Klemmordner den Raum. In der Schwingtür zum Klo glimmt ein Bullauge. Lammfilets werden aufgetragen. Zigarillos glühen. Der typische, Pfeife rauchende Jazzfan erscheint nicht. Die Musikanten versacken vergnügt im perlenden Sound der gepflegten Langeweile. Kenner und Genießer hören zu, wie angenehm die Zeit verrinnt. Hier vergeht das Großstadtleben gutaussehend. Abflug, Kurs Prenzlauer Berg.

Über einen Hinterhof an der Greifswalder Straße stapft der Pilot ins Knaack, steigt durchs blaue Treppenhaus hinauf zur Dizzy Lounge. Separeèlämpchen, goldgerahmte Spiegel. An niedrigen Tischchen Teenie-Trüppchen. Auf der mit Rotbirnchen gerahmten Minibühne fixiert eine Blondine im weißen Blouson den Monitor an der Seite. Was darauf zu sehen ist – Songtexte, Videoclips – erscheint hinter ihr groß auf der Leinwand. Im Bühneneck schiebt der Karaoke-Direktor schimmernde Digitalscheiben in die Hightech-Jukebox. „Nur für Erwachsene“ steht auf seinem T-Shirt. „When the night has come and the land is dark“, piepst es aus dem weißen Blouson. „No, I won’t be afraid just as long as you stand, stand by me.“ An der Theke, neben dem Piloten, sitzt eine volljährige Betreuerin und passt auf, dass alles gut geht. Schon zu DDR-Zeiten war das Knaack ein Jugendclub. Auge in Auge mit dem Monitor ergreift eine kesse Nickelbrille das Mikrofon: „I could put my arms around every boy I see.“ Verblüffend perfekt simuliert sie, inclusive Kopfstimme, das Sinead O’Connor-Original: „Nothing compares 2 u“. Seliger Narzißmus. Friedlicher Exhibitionismus. Liturgie des Selbstgesprächs. Lagerfeuer-Feeling. Zwei Teeniekerle, denen es nicht wie den Karaoke-Girls um Kommunikation mit dem Monitor geht, sondern um die geile Kreisch-Performance, zappeln als „Gun’s and Roses“ auf und ab: „Take me down to the paradise city, where the grass is green and the girls are pretty, o won’t you please take me home.“ Und dann kommt, in einem roten, selbstgestrickten Pulli, pummelig und ernsthaft lächelnd, Andrea. „Er gehört zu mir wie mein Name an der Tür,“ verkündet sie. „Nananananananana“ singen alle mit. „Ist es wahre Liebe, uhuhuu, oder wird die Liebe vom Wind verweht?“ Ehrlicher Applaus von den Karaoke-Profis. Zufrieden geht ein Fräulein ab, das sich ausgesprochen hat, wenn auch niemand an diesem Abend weiß, ob Andreas Stimme mit irgendeiner anderen Stimme zu vergleichen ist, oder ob sie irgendwann ihre eigene Stimme wird imitieren können. Als der Pilot aus dem himmlischen Schutzraum der rituellen Toleranz absteigt in die Berliner Realitäten-Hölle, schlägt ihm auf dem Concert Floor ohrenbetäubendes Krachen entgegen. Nächtliche Neugierblicke um labyrinthische Mauerecken; durch schwarze Stahltüren; in den Saal, wo gerade der Sinn des Lebens stattfindet – während die „Blood Brothers“, schäumend, sich windend, zuckend, brüllend, Mineralwassser in sich hineinschüttend, das Podium zerstampfen. Kahle Jünglinge an der Rampe nicken dem Takt der Geräuschexplosionen so schnell hinterher, dass ihre mechanischen Köpfe eigentlich im nächsten Moment herabpurzeln müssten. „Ist es wahre Liebe?“ Draußen aber, vor dem Hofeingang zur Blutsbrüderschaft, erwartet den Piloten die schläfrige Stadt des Vergessens.

Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, Tel. 28408155. – Soultrane, Kantstr. 17,

Tel. 315150. – Knaack, Greifswalder Str. 224, Tel. 4427061.

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