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Freund der deutschen Kultur. Lars Gustafsson 2009 bei der Verleihung der Goethe-Medaille in Weimar.

© Martin Schutt / dpa

Kultur: Jeden Morgen erfinden wir uns selbst

Universalgelehrter mit Sinn für philosophische Kunststücke: Zum Tod des schwedischen Dichters und Erzählers Lars Gustafsson.

Von Gregor Dotzauer

Zwischen mathematischen und mystischen Fragestellungen klaffte für ihn nie ein Abgrund. Lars Gustafsson war ein Universalgelehrter, der wissenschaftliches und religiöses, diskursives und poetisches Denken verband wie nur wenige. Ob er in seinem frühen Gedicht „Die Brücken von Königsberg“ (1966) Leonhard Eulers legendäres Problem verarbeitete, wie man die sieben Brücken der Stadt über den Pregel jeweils genau einmal passiert, ohne sich eine achte hinzuzudenken, oder ob er in seinem späten Essay „Gegen Null“ (2011) mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung gegen die Wahrscheinlichkeit der menschlichen Existenz argumentierte: Er verstand sich auf philosophische Kunststücke.

Man konnte ihnen höchstens vorwerfen, dass sie, in der Prosa viel mehr als in der Lyrik, literarische Formen nur benutzten, statt auf den Eigensinn poetischer Erkenntnis zu setzen. In diesem Sinn war der 1936 im mittelschwedischen Västerås geborene Gustafsson ein gelehriger Schüler seines Lieblingsautors Jorge Luis Borges. Sonst fühlte er sich eher Ludwig Wittgenstein verpflichtet, dessen Lektüre ihn von seinen sprachpessimistischen Anfängen heilte: „Unsere Worte bergen keine unzugänglichen Reste und keine privaten Bedeutungen“, schrieb er in einem Kommentar zu dem von kybernetischen Theorien geprägten Gedicht „Die Maschinen“, mit dem der 30-Jährige Furore machte: „Die Sprache schöpft uns aus. Sie ist das Unpersönliche in uns, und unsere Gedanken existieren nur in diesem unpersönlichen und gleichsam objektiven Medium. Es denkt in uns.“

Wie er dieses Denken in seinen unüberschaubar vielgestaltigen, rund 70 Büchern arrangierte und von aller Strenge befreite, hatte mitunter höchsten Unterhaltungswert. So, wie er Natur- und Geisteswissenschaften fusionierte, führte er auch todernste Themen mit verschmitzter Leichtigkeit bis ans Genrehafte heran. „Die dritte Rochade des Bernard Foy“ (1986), ein Vexierspiel, das auf drei ineinanderverschachtelten Wirklichkeitsebenen von einem durch die Welt gehetzten Rabbi erzählte, spielte mit dem Spionageroman. „Der Dekan“ (2004), ein Versuch über das Böse und seinen Platz in der Evolution, trug Züge eines Thrillers.

1981 konvertierte er zum Judentum

Eine zentrale Stellung in seinem Werk nimmt der fünfteilige Romanzyklus „Risse in der Mauer“ ein. Was 1971 mit „Herr Gustafsson persönlich“ begann und 1978 mit „Der Tod eines Bienenzüchters“ seinen Abschluss fand, lebte als Gesellschaftschronik der sechziger und siebziger Jahre von fünf unterschiedlichen Protagonisten, die nur Gustafssons Geburtsdatum, den 17. Mai 1936, verband. „Kein Mensch kann je ganz er selbst sein. Jeden Morgen erfinden wir in einem bestimmten Sinne uns selbst“, erklärte er sein Vorgehen. Auch in seinem übrigen Leben hat er dies mit Hingabe getan. Das einschneidendste Ereignis war nach der Scheidung von seiner ersten Frau, der Dichterin Madeleine Lagercrantz, da sicher 1981 die Konversion vom Protestantismus zum Judentum. Ihr folgte im Jahr darauf die Heirat mit der amerAuch in seinem übrigen Leben hat er dies mit Hingabe getan. Das einschneidendste Ereignis war nach der Scheidung von seiner ersten Frau, der Dichterin Madeleine Lagercrantz, da sicher 1981 die Konversion vom Protestantismus zum Judentum. Ihr folgte im Jahr darauf die Heirat mit der amerikanisch-jüdischen Historikerin Alexandra Chasnoff. Die dritte Ehe ging er 2005 mit Agneta Blomqvist ein, mit der er das Schwedenbuch „Das Lächeln der Mittsommernacht“ verfasste.

Neben der schriftstellerischen Karriere verfolgte Gustafsson auch eine akademische – und eine politisch-publizistische. In Uppsala und Oxford hatte er Mathematik und Philosophie studiert und sich 1979 mit einer Arbeit über „Sprache und Lüge“ habilitiert, die unter anderem Fritz Mauthner und Friedrich Nietzsche behandelte. 1983 wurde er Professor für Germanistische Studien und Philosophie an der University of Texas at Austin, eine Stellung, die er bis 2006 innehatte. Anschließend zog er nach Schweden zurück.

Zur deutschen Kultur unterhielt er stets ein enges Verhältnis – nicht erst, seitdem er 1972 mit einem DAAD-Stipendium für ein Jahr nach West-Berlin gelangt war. Diese Nähe wurde 2009 mit der Goethe-Medaille gewürdigt und 2015 mit dem Thomas-Mann-Preis. „Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf“, lautete das Motto seiner Pentalogie. Daraus wird nun nichts mehr werden. Am Sonntag ist Lars Gustafsson, der in seinem deutschen Verlag Hanser gerade erst den Hochstaplerroman „Doktor Wassers Rezept“ veröffentlichte, mit 79 Jahren gestorben.

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