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Gegenöffentlichkeit. Die Angst vor staatlicher Überwachung thematisiert Paul Garrin in seinem Video-Manifest „Reverse Big Brother“, 1990.

© P. Garrin/Art Institute of Chicago

Kurzfilmtage Oberhausen: Jeder Mensch ein Sender

Gab es soziale Medien schon vor dem Internet? Die Kurzfilmtage Oberhausen zeigen audiovisuelle Arbeiten von Medienkünstlern aus Zeiten vor Facebook & Co.

Vom „asozialen“ Medium Internet ist in letzter Zeit oft die Rede – und von rassistischen Trollen, spionierenden Hackern, Darknet-Kriminellen und Fake-News-Verbreitern. „Unsoziale“ Medien kann es hingegen nicht geben, schließlich sind sie immer Mittel der Kommunikation, der Verbindung von Menschen. Wenn alle Medien sozial sind, was meinen die Organisatoren der am Donnerstag beginnenden Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen dann, wenn sie dieses Jahr den „Sozialen Medien vor dem Internet“ einen Programmschwerpunkt widmen?

„Den Konsumenten von Medien zum Produzenten von Medien zu machen, war jahrzehntelang ein Traum linker Medientheoretiker“, schreibt Kurator Tilman Baumgärtel. „Man hoffte auf eine Medienzukunft, in der die Macht der Verlage und Sender zugunsten von demokratischen und partizipativen Medien gebrochen wäre.“ Es geht in Oberhausen also um historische Versuche, eine Do-It-Yourself-Alternativöffentlichkeit zu schaffen, die oft auch dezidiert Gegenöffentlichkeit war. Wobei die Möglichkeiten der Distribution, des „Sharing“, und der Interaktion über einen Rückkanal damals noch sehr eingeschränkt waren.

Die audiovisuellen Beispiele, die Baumgärtel für Oberhausen ausgewählt hat, haben ihren Ursprung in den Experimenten medieninteressierter Künstlerinnen und Künstler, in der Technikbegeisterung junger Amateure, in Initiativen für alternative lokale Medienangebote oder im politischen Aktivismus zwischen Bürgerbeteiligung und Spaßguerilla. Häufig überschnitten sich lokale und politische Anliegen.

Inhalte, die man heute auf Facebook teilt

Ein rührendes Beispiel für ein lokales Projekt ist ein Ausschnitt aus dem Programm von „Lanesville TV“, einem der ersten Piraten-TV-Sender der USA. Reporter Bart Freedman läuft mit einem Kinderwagen, in dem die unhandliche Technik deponiert ist, durch die Nachbarschaft und fängt mit der Videokamera Alltägliches ein. Ein Junge angelt in einem Teich, ein Mann präsentiert stolz sein Golfcart, eine Mutter ihr Neugeborenes. Inhalte, die man heute auf Facebook teilt.

Freedmans Hippievibe von 1972 steht im Kontrast zur konfrontativen Stimmung in „Radio Freyes Dreyecksland“ In dieser Selbstdarstellung aus dem Jahr 1984 stellen sich die Macher des Freiburger Piratenradiosenders in einer öffentlichen Redaktionssitzung der Kritik ihrer Hörer an der Berichterstattung über die RAF-Gefangenen. Eine Debatte, in der es hoch hergeht.

Am Neujahrstag des gleichen Jahres realisierte der südkoreanische Medienkünstler Nam June Paik über Satellit eine Konferenzschaltung zwischen Paris und New York und ließ unter anderem Laurie Anderson, Peter Gabriel, Merce Cunningham, Joseph Beuys und Allen Ginsberg auftreten. „Good Morning, Mr. Orwell“ benannte er seine Sendung anspielungsreich. Paik träumte schon lange von einer „direkten Demokratie“ via Satelliten-TV - wie ein auf Video aufgezeichnetes Gespräch mit Joseph Beuys aus dem Jahr 1974 belegt, das ebenfalls im Oberhausener Programm läuft.

Schon Spuren des "asozialen" Internets

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen war 1992 technisch weit vorne mit dem zur Documenta 9 gestarteten hunderttägigen Projekt „Piazza virtuale“. 3Sat zeigte damals jede Nacht Beiträge von Künstlern und Hackern aus ganz Europa. Die Zuschauer konnten sich per Fax, Computer oder Telefon in die Livesendungen einschalten. In Oberhausen ist ein Dokumentarfilm über das interaktive Fernsehprojekt von Utta C. Hoffmann zu sehen.

Nur via Telefon funktionierte dagegen in der Bulletin-Board-Systems-Szene der siebziger Jahre der Austausch. Über diese Frühform des Internets konnten die Computernerds der ersten Stunde Texte oder Spiele austauschen. Der in Oberhausen gezeigte sechste Teil von „BBS: The Documentary“ mit dem Untertitel „Hacking, Phreaking, Anarchy, Cracking“ führt vor, wie spielerisch schon damals die Grenzen der Legalität überschritten wurden – allerdings auf geradezu unschuldige Weise. Was hätte er denn als 13-Jähriger tun sollen, als die Eltern geschockt mit der 500-Dollar-Telefonrechnung ins Kinderzimmer kamen, fragt einer der Interviewten? Um den Ärger mit den Eltern zu umgehen, hackte er fortan also die Gratisnummern der Telefongesellschaften.

Still aus Piazza virtuale: "The Documentation", Dudesek/Heidersberger/Hentz/ Vanasco/Van Gogh TV, Deutschland, 1993
Still aus Piazza virtuale: "The Documentation", Dudesek/Heidersberger/Hentz/ Vanasco/Van Gogh TV, Deutschland, 1993

© Kurzfilmtage Oberhausen

Das Programm der Kurzfilmtage dreht sich im Kern um die spannende Frage, wann der Traum linker Medientheoretiker seine Unschuld verlor. Ein exaktes Datum lässt sich nicht benennen, aber deutlich wird, dass sich – retrospektiv betrachtet – in den utopischen Kunstaktionen, in basisdemokratischen Modellen, in freakigen Experimenten, im kindlichen Überschwang schon Spuren des „asozialen“ Internets finden lassen, das heute verstärkt unter kritischer Beobachtung steht. Wenn etwa in „Radio Freyes Dreyecksland“ Hörer einander heftig beleidigen und den bürgerlichen Medien pauschal Fälschungen unterstellen oder der Medienkünstler Paul Garrin in seinem Video-Manifest „Reverse Big Brother“ (1990) eine staatliche Kontrolle der Medien behauptet.

Ebenso komisch wie ambivalent ist ein Video, das eine öffentliche Versammlung dokumentiert, in der sich 1982 die Bürgermeisterkandidaten Freiburgs vorstellen. Zwei der Kandidaten sprengen die Veranstaltung, indem sie mit ihren Nonsensreden nicht nur die Konkurrenz lächerlich machen, sondern auch den demokratischen Prozess an sich. Die Grenze der Satire wird hier schon deutlich in Richtung „Trolling“ überschritten.

Eine Strapaze für die Sinne

So aktuell und spannend die Thematik ist, ästhetisch ist das Oberhausener Programm eher eine Strapaze für die Sinne. Da Baumgärtel sich auf die Zeit von der beginnenden Videorevolution bis in die frühen neunziger Jahre konzentriert, sind Bild- und Tonqualität oftmals bescheiden. Ausnahmen sind zwei kurze analog gedrehte Filme von Harun Farocki und der wunderbare feministische Kurzspielfilm „Für Frauen – 1. Kapitel“, den die Dffb-Studentin Cristina Perincioli 1971 mit weiblichen Supermarkt-Angestellten und Hausfrauen gedreht hat.

Man hätte den Anteil von 16-mm-Produktionen im Programm durchaus erhöhen können. „Soziale Medien“ in Baumgärtels Sinne begannen nicht erst mit der Videorevolution. Auch US-Nachrichtenkollektive wie „Third World Newsreel“ und „California Newsreel“, die Ende der sechziger Jahre aktiv waren, stehen in dieser Tradition. Gleiches gilt für einige Experimentalfilmgruppen aus dieser Zeit, die eigene Vertriebsnetzwerke aufbauten. Aber vielleicht ist diese Kritik heutzutage auch geschmäcklerisch. Andrew Bujalskis Indiekomödie „Computer Chess“ von 2013 zeigt ja, dass die Videoästhetik längst auch im Retro-Hipsterkanon angekommen ist.

Die Kurzfilmtage Oberhausen eröffnen an diesem Donnerstag und laufen bis 16. Mai. Infos: www.kurzfilmtage.de

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