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Werkzeug Posaune. Der Komponist und Improvisationstheoretiker George Lewis 2009 in Moers.

© Nomo/Michael Hoefner

Jenseits der Genres: Kraut, Rüben, Musik!

Sammler und Wilderer: In dem Band „Geistertöne“ trägt Christoph Wagner Begegnungen mit ungewöhnlichen Musikerinnen und Musikern zusammen.

Von Gregor Dotzauer

Das 20. Jahrhundert, das Christoph Wagner in „Geistertöne“ lebendig werden lässt, ist in vieler Hinsicht kürzer als dasjenige, das der Historiker Eric Hobsbawm zwischen dem Beginn des Ersten Weltkriegs und dem Ende der Sowjetunion angesiedelt hat. Es umfasst gerade mal vier, höchstens fünf musikalische Dekaden seit den 1960er Jahren, in denen eine grenzenlose Offenheit möglich schien.

In 18 Interviews und Features bestellt Wagner ein Feld, auf dem scheinbar nur Kraut und Rüben gedeihen, das in seinem Sinn für Mischkulturen aber durchaus Verbindendes hat. Die Musikerinnen und Musiker des Bandes stehen vor allem für eine Globalisierung avant la lettre. Sie nehmen sich, was ihnen gefällt: voller Respekt für alles Fremde: Ihnen kommt es auf Austausch und Horizonterweiterung, nicht auf Aneignung an.

[Christoph Wagner: Geistertöne. Gespräche über Musik jenseits der Genregrenzen. Schott, Mainz 2021. 170 Seiten, 29,95 €.]

Deutsche Pioniere wie der Kopf der Ethnojazzband Embryo, der Schlagzeuger und Vibraphonist Christian Burchard, oder Jaki Liebezeit, der eiserne Taktgeber der Elektrokrautrockband Can, kommen dabei ebenso zu Wort wie David Harrington, der Kopf und erste Geiger des Kronos Quartet, oder die Sängerin Meredith Monk. Man könnte die amerikanische Pianistin Marilyn Crispell, die im Kapitel „Jazz-Moderne“ auftritt, problemlos zur „Avantgarde in der flüssigen Moderne“ umsortieren, und den Chicagoer Posaunisten, Komponisten und Theoretiker George Lewis von dort zum „Afro-Futurismus“, wo sich der große afrodänische Saxophonist und Flötist John Tchicai findet. Diese Beliebigkeit liegt im Wesen der Sache.

Die Fragen sind kurz und schlicht, eher stichwortgeberisch als gedanklich entfaltet, wie es der Untertitel „Gespräche“ nahelegt. In der Schriftform, in die Wagner seine zum Teil aus mehreren Radiobeiträgen kompilierten Interviews gebracht hat, haben sie oft nur den Charakter von Zwischenüberschriften, schaffen in Verbindung mit den langen Antworten aber einen angenehm ruhigen Lesefluss.

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Besonders ergiebig sind die Paargespräche, in denen schon die Konstellationen das Gattungsübergreifende definieren. Peter Zumthor hätte sich fast dem Jazzkontrabass verschrieben, wenn ihn schließlich nicht die Architektur gepackt hätte: Seine einstigen Träume sieht er nun in seinem Schlagzeugersohn Peter Conradin Zumthor fortleben. Im Fall von Robyn Schulkowsky und ihrem Mann Joey Baron ist es der Zugang, der die Spannung schafft. Sie, die Perkussionistin, kommt von der Neuen Musik, er, der Drummer, vom Jazz. Auf dieser Grundlage haben sie wunderbare Duoprogramme entwickelt.

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