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Immer mit Emphase. Joshua Bell.

© Michael Loccisano/AFP

Joshua Bell im Konzerthaus: Beethoven ohne Rückenlehne

Mit Mendelssohn im Konzerthaus: Joshua Bell und die Academy of St. Martin in the Field.

Dass sie als Kammerorchester das Volumen und die Verve eines großen Sinfonie-Apparats entwickeln können, gehört zu den Erfolgsgeheimnissen der altehrwürdigen Academy of St. Martin in the Fields. Die Londoner Musiker, seit 2011 unter der Leitung des Stargeigers Joshua Bell, legen im Konzerthaus gleich bei Beethovens „Egmont“-Ouvertüre eine von präzisen (De-)Crescendi und markigen Akzenten befeuerte Energie an den Tag, bei höchster Transparenz der Stimmen. Ihr organisches Spiel dürfte beispiellos sein über die Jahrzehnte. Es genügt tatsächlich, dass Bell mit all seiner Leidenschaft vom Klavierhocker aus dirigiert, mit dem Oberkörper, dem Geigenbogen – wer braucht da einen Taktstocklöwen?

Mendelssohns e-Moll-Violinkonzert geht der 59-jährige US-Violinvirtuose ebenfalls mit Emphase an, jetzt im Stehen, mal mit dem Rücken zum Orchester, mal ihm zugewandt. Ein hingebungsvoller, beseelter Gesang, mit winzigen Portamento-Schleifspuren. Bei aller perlmuttfarbenen Eleganz, aller Perfektion, allem Tempo zur Routinevermeidung: Darf man trotzdem sagen, dass einem das Überraschende, Unerhörte fehlt in diesem tausendfach gehörten Repertoirestück und Publikumsliebling? Patricia Kopatchinskaja, derzeit Artist in Residence am Gendarmenmarkt, mochte es deshalb lange nicht spielen. Wo ist die Scheu vor der Schönheit, der leise bohrende Schmerz, den die Süße, die Sehnsucht auch birgt? Oder der verstörende Geisterspuk im flinken Scherzo?

Als Primus inter doch nicht ganz Pares sitzt Bell bei Beethovens Pastorale dann wieder auf seinem Hocker. Alles wunderbar, die Vogellautmalereien der Holzbläser, der satte, plastische, farbenprächtige Sound, die Unbeschwertheit des Landlebens, das wilde Gewitter, die innige Dankbarkeit nach überstandenem Sturm. Aber auch hier: Kein Abgrund tut sich auf, nichts Neues unter Beethovens Sonne.

Nicht, dass Bell sich nichts traute, er trat schon inkognito als Straßenmusiker in der Washingtoner U-Bahn auf, verlässt auch musikalisch gern mal die Gefilde der Klassik. Jetzt müsste er nur die Klassik selber befragen, die Academy hätte das Zeug dazu. Begeisterung im Konzertsaal, auch ohne Zugabe. Christiane Peitz

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