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Yakov (Dave Davis) soll eine Totenwache abhalten, in der längsten Nacht seines Lebens.

© Wild Bunch

Jüdischer Horror in "The Vigil": Der böse Geist von Buchenwald

In seinem Horrorfilm „The Vigil“ begibt sich Regisseur Keith Thomas auf das Gebiet der jüdischen Mystik – und spart den Holocaust nicht aus.

Von Andreas Busche

Smartphones haben im modernen Horrorfilm den analogen Fernseher und die Videokassette als verfluchte Technologien abgelöst. Nicht mehr das Weiße Rauschen öffnet das Tor in eine andere Dimension, sondern die nächtliche Facetime-Session. Der Dämon steckt im mobilen Endgerät. Die junge Frau, die Yakov (Dave Davis) auf seinem Display beruhigend zuredet, ist nicht die, die sie zu sein vorgibt.

Aber Yakov sucht Halt. Er hat sein altes Leben in der chassidischen Gemeinde Brooklyns hinter sich gelassen. Traumatisiert vom Tod seines kleines Bruders, der bei einem antisemitischen Übergriff auf offener Straße starb, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Albtraum.

Abends besucht Yakov eine Selbsthilfegruppe, in der sich Aussteiger aus den orthodoxen Gemeinden über ihre Erfahrungen mit der neu gewonnenen Freiheit austauschen. Um finanziell über die Runden zu kommen, nimmt Yakov widerwillig einen Job als Shomer für Reb Shulem (Menashe Lustig) an. Er soll einige Stunden die nächtliche Totenwache für ein verstorbenes Gemeindemitglied halten.

Ob Regisseur und Drehbuchautor Keith Thomas sich des antisemitischen Ressentiments bewusst ist, wird nicht ganz klar, jedenfalls erweist sich Yakov als hartnäckiger Verhandlungspartner: Er holt den Höchstpreis für die fünfstündige Nachtschicht raus. Es wird die längste Nacht seines Lebens.

Holocaust und Antisemitismus

Es gab in den Populärmedien zuletzt verstärktes Interesse am jüdischen-orthodoxen Leben, Serien wie „Unorthodox“ und „Shtisel“ (beide Netflix) erzählen von den Konflikten traditioneller Religionsgemeinschaften mit der modernen Welt. Ganz anders „The Vigil“, ein kleiner, schnörkelloser Horrorfilm aus der Schmiede von Jonas Blum, der zwischen Jordan Peeles „Get Out“, Spike Lees „BlacKkKlansman“ und konventionelleren Genrestoffen wie dem „Insidious“-Franchise ein spannendes Portfolio aufgebaut hat.

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Thomas wagt sich mit seinem Langfilmdebüt auf das Terrain der jüdischen Mystik, exakt 100 Jahre nach Paul Wegeners „Der Golem, wie er in die Welt kam“. Ein reizvolles und im Kino bislang wenig exploriertes Sujet; selbst ein jüdischer Regisseur wie William Friedkin hatte sich mit „The Exorcist“ dem Horror einer christlich fundierten Dämonik verschrieben.

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„The Vigil“ ist ein Film über jüdische Traumata, den Holocaust und den alltäglichen Antisemitismus. Der alte Litvak, über dessen Totenruhe Yakov wachen soll, ist ein Buchenwald-Überlebender. „Es sind Erinnerungen, aber nicht deine“, warnt ihn zur Begrüßung Litvaks Frau, die schlaflos durchs Haus wandert, vor den nächtlichen Visionen.

Böse, alte Seele

Zach Kupersteins Kamera bleibt seelenruhig, nicht mal die routinierten Jump Scares bringen sie aus der Fassung. Der Mazzik, der sich im alten Litvak eingenistet hat, in die Leerstellen, die das Trauma der Schoah in der Seele hinterlassen hat, wartet auf einen neuen Wirtskörper. Yakovs beschädigte Psyche entspricht genau seinem Beuteschema.

Man kann darüber streiten, ob es geschmackvoll ist, den Holocaust als Horrorthema zu benutzen; Produzent Blum hat zuletzt mit der Nazipulp-Serie „The Hunters“ auf Amazon schon Ähnliches versucht. Aber Thomas wagt sich nicht genug in die jüdische Mystik vor – noch will er sich tiefgründiger mit dem Horror der Konzentrationslager auseinandersetzen –, als dass man „The Vigil“ als anstößig empfinden könnte.

Das Thema ist fast ein bisschen verschenkt. Der Mazzik ist bloß eine böse alte Seele, die immerhin keine Berührungsängste mit mobiler Telekommunikation hat. Dieser Horrortopos wird wohl nie aus der Mode kommen: Geh. Nicht. Ans. Telefon.
In den Berliner Kinos Cinemaxx Potsdamer Platz, Alhambra, Neukölln Arcaden, Titania Palast, Filmpalast Treptower Park, Cubix Alexanderplatz, Cinestar Tegel

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