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Der Lyriker Jürgen Nendza 2018 im Haus für Poesie.

© imago/Rolf Zöllner

Jürgen Nendzas "Auffliegendes Gras": Ausgekohlt

Die geschichtlichen Metamorphosen von Landschaften: "Auffliegendes Gras", der neue Gedichtband des Lyrikers Jürgen Nendza.

Das Geschichtsgelände in den neuen Gedichten ("Auffliegendes Gras", Poetenladen Verlag, Leipzig 2022.72 Seiten, 18,80 €.) von Jürgen Nendza ist eine heillose Gegend. Bereits der Eröffnungszyklus mit seinen radikal verknappten Dreizeilern konfrontiert uns mit „Abraum“, einer versehrten Topographie, die der Mensch mit seinen Werkzeugen ausgebeutet hat.

Das Ich, das hier durch die vom Bergbau völlig veränderte Landschaft des Ruhrgebiets geht, registriert „das Malmen / aus der Tiefe, aus / dem Kolossalen“.

Natur ist für den in Aachen und Köln lebenden Jürgen Nendza kein idyllischer Rückzugsort mehr, kein locus amoenus wie einst in der klassisch-romantischen Dichtung, sondern ein von „Rüttelverdichtung“ und „schaufelnden Schaufeln“ strapaziertes Territorium, eine industriell „ausgekohlte“ Welt.

Emporfliegen ins Offene

Seit „Glaszeit“, seinem lyrischen Debüt von 1992, interessiert sich Nendza für die geschichtlichen Metamorphosen von Landschaften. Sein präziser Blick auf Naturphänomene ist dabei stets verbunden mit der historischen Dimension all der aufgerufenen Materie. So vollführen auch seine neuen Gedichte im Wesentlichen zwei Bewegungen: Zum einen, wie im Zyklus „Abraum“, den geschichtsarchäologischen Weg nach unten, in die Tiefenschichten der Erde, zu den geologischen Formationen, in die „Folgelandschaften“ des Bergbaus.

Zum anderen aber ein Emporfliegen ins Offene, hin zu den Zeichen des Glücks, wie sie sich im titelgebenden Gedicht vom „Auffliegenden Gras“ manifestieren. Im Zyklus „Kretisches Gelände“ wird hier auf den Kranichtanz angespielt, ein Liebesritual, in dessen Verlauf die Vögel Grasbüschel aus der Erde rupfen und in die Luft werfen.

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In den fünf Zyklen geht Nendza formal sehr unterschiedliche Wege. Die dreizeilig organisierten Verse in „Abraum“ setzen sehr stark auf die poetische Reibungshitze der eng gefügten Substantive, zeichnen die Konturen einer Wüstung mit „Resthäuserhorizont“: „Du bist / Löschwasser, Werksgelände, / gebundener Staub / erstarrst im Pendeln / der Trümmerbirne / unter dem Verbrennungsgewölbe…“

Im zweiten und dritten Zyklus öffnet sich die poetische Rede und Nendza gestattet sich etliche narrative Sequenzen. In der Art eines konzentrierten „Nature writing“ entwirft etwa der zweite Zyklus ein traditionsbewusstes „Gespräch über Bäume“, das berühmte Vorläufer in Literatur- und Kunstgeschichte durchaus im Blick hat.

Zwischen Traum und Erwachen

Hier erlaubt sich der ansonsten auf kühle Beobachtungskunst bedachte Autor auch etwas Emphase. Die Rotbuche erscheint hier etwa in fast sakraler Metaphorik als „Andachtshalle für feinste Wurzeln“.

In diesem „Arboretum“-Kapitel findet sich auch ein besonders faszinierendes Gemäldegedicht, eine kongeniale Anverwandlung von Paula Modersohn-Beckers Ölbild „Kleines Kind mit Birkenstamm“: „allein hineingestellt / ins himmelgraue Freilandhell umklammert / seine Hand das Holz: ein Stab / in dem schon früh das Kümmern wächst.“

Der dritte Zyklus versammelt freie Verse und Notate, die zwischen Traum und Erwachen pendeln. An diese „Konfession der Übergänge“ schließt auch die letzte Abteilung des Bandes an, die eine sinnliche Erfahrung griechischer Landschaft mit dem antiken Minotaurus- und Labyrinth-Mythos verknüpfen. Die evozierten „Zungenblüten“ sind hier nicht nur ein Blumendetail, sondern auch ein erotischer Topos.

Gegen Ende kommt die Frage auf: „Was wird aus der Windstille jetzt?“ Sie bezeichnet den Augenblick der Erwartung, in dem Nendzas kunstvoll gewebte Gedichte die Dinge in ein neues Licht rücken, so dass sie von sich aus zu strahlen beginnen.

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