zum Hauptinhalt
Die deutsche Schriftstellerin Alina Bronsky

© Julia Zimmermann/Kiepeneheuer & Witsch

"Der Zopf meiner Großmutter" von Alina Bronsky: Junger Mann mit Hirn

Von der Kraft der Vergebung: Alina Bronskys temporeicher, lesenswerter Roman „Der Zopf meiner Großmutter“.

Diese Großmutter ist ein Phänomen. Sie ist zum Fürchten, trotzdem schließt man die herrschsüchtige Figur irgendwann ins Herz. Die Oma des Ich-Erzählers in Alina Bronskys neuem Roman „Der Zopf der Großmutter“ (KiWi, Köln 2019. 224 S., 20 €.) kann nicht nur schrecklich böse sein zu ihrem siebenjährigen Enkel, sondern auch wahnsinnig fürsorglich. Fast alles aber, was eine Kindheit schön macht, Süßigkeiten zum Beispiel, hält sie von dem schwächlichen Knaben fern, um dann die Gummibärchen oder den Kuchen vor seinen Augen selbst aufzufuttern. Max bekommt jahrelang nur Gemüsepürees vorgesetzt, weil die Großmutter, die als Mutter fungiert, sich einbildet, der Junge müsse ohne Schonkost unter schlimmen Verdauungsproblemen leiden.

Die Alte, die zu Beginn des Romans noch gar nicht so alt ist, verflucht alles, was ihr nicht geheuer ist, sie zieht über Juden und Muslime her, beschimpft im Grunde alle Mitmenschen. Ihren Gatten nennt sie ganz nebenbei schon mal „Mann ohne Hirn“. Eine Gestalt aus einem modernen Gruselmärchen ist die Frau aber nicht. Sie wirkt gerade in ihrer radikalen Überzeichnung erstaunlich realistisch. Tatsächlich meint man eine ähnliche Type schon erlebt zu haben. Das liegt auch an der liebevoll-lakonischen Erzählperspektive des Romans. Max blickt mit milder Ironie auf die Zumutungen seiner Kindertage zurück, was schon eine Leistung ist. Hass oder Verdrängung wären bei den Verhältnissen, die er zu ertragen hatte, durchaus nachvollziehbar.

Bronsky wird abermals ein großes Publikum ansprechen

Möglich ist der großelterliche Erziehungsterror, weil die Familie sich in der Fremde durchzuschlagen hat und die Wutdame das Land, das nicht zur neuen Heimat werden darf, mal in den Himmel lobt, mal verteufelt. Wie so oft schlägt auch hier das Leiden am Verlust der gewohnten Milieus in hässliche, hassgeleitete Projektionen um. Die Großeltern sind mit Max aus Russland in eine namenlose deutsche Provinzstadt umgezogen. Die Gründe für die Migration bleiben zunächst im Dunklen. Die Mutter des Jungen ist tot, vom Vater erfährt Max nur wenig.

Etwas sehr Trauriges scheint in dieser Familie passiert zu sein, worüber wir erst am Romanende aufgeklärt werden. Fernab der bekannten Sitten und Gebräuche kann die Großmutter die seltsamsten Spleens und übelsten Unverschämtheiten zu Notwendigkeiten im Überlebenskampf unter anderen und ebenso verunsicherten wie traumatisierten Flüchtlingen aus aller Welt stilisieren. Sichtbares Symbol dieser rigiden Haltung ist die auffällige Haarpracht der Dame: „Der rot gefärbte Zopf legte sich wie eine Schlange um ihren Kopf, und das gepunktete Kleid wurde dank einer Stoffblume am Ausschnitt zum Festgewand. Hinter der zur Schau getragenen Selbstsicherheit spürte ich ihre tiefe Angst, als Hochstaplerin entlarvt und zurück in die zerfallene Sowjetunion geschickt zu werden.“

Hier wird luftig-lustig von gesellschaftlichen Brüchen erzählt

Auch wenn die Großmutter ihren Enkel einen „Idioten“ nennt, lernt Max schon früh, sich eine eigene Meinung zu bilden. Er begreift besser als seine Oma, dass Opa sich wieder verliebt hat: in seine Klavierlehrerin Nina, die ebenfalls Russin ist: „Je mehr sich Ninas Wohnung wie das zweite Zuhause meines Großvaters anfühlte, desto schwindliger wurde mir bei dem Gedanken, dass es für jedes Leben mehr als eine Version gab. Vielleicht war es theoretisch auch für mich möglich, etwas anderes zu tun, als pürierten Blumenkohl zu schlürfen und dabei Großmutter beim Flechten ihres Zopfes zu beobachten." Überhaupt die Liebe. Von der wird auch dann noch augenzwinkernd erzählt, wenn die familiären Bindungen auf dem Prüfstand stehen. Denn bald ist Nina schwanger, aber anstatt den untreuen Gatten zu verlassen, lässt sich die Frau mit dem roten Schlangenzopf auf ein familiäres Patchwork ein, ohne von diesem Begriff jemals gehört zu haben.

Die 1978 im russischen Jekaterinburg geborene Schriftstellerin Alina Bronsky wird auch mit ihrem neuen Roman ein großes Publikum ansprechen. Schon ihr Debüt „Scherbenpark“, das von schwer erträglichen Erlebnissen der jungen Russin Sascha in einem deutschen Hochhausviertel und davon erzählt, wie ihre Mutter vom Stiefvater erschossen wird, war ein Bestseller. Zuletzt konnte Bronsky mit dem Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“, der sich mit einer seltsamen Dorfgemeinschaft in der verstrahlten Einöde nahe Tschernobyl befasst und ein spätes Glück der hochbetagten Titelheldin beschreibt, nicht nur viele Leserinnen und Leser, sondern auch die Kritik überzeugen. Der Roman war für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert. Es wäre zu wünschen, dass die Jury des diesjährigen Wettbewerbs auch Bronskys neue Arbeit auf die Longlist setzte. Anders als die in der Regel ausgezeichnete deutschsprachige Prosa weiß diese Autorin auf luftig-lustig von gesellschaftlichen Brüchen und den daraus resultierenden Verwerfungen im Alltag ihrer Protagonisten zu erzählen.

Aus der Familiengeschichte entwickelt sich schließlich ein Coming-of-Age-Geschehen

Bronskys Romane sind kunstvoll ungekünstelt, sie verbinden Melancholie und Komik und präsentieren überraschende Wendepunkte. Ihre außergewöhnliche Qualität verdankt diese äußerst temporeiche Literatur nicht zuletzt den prägnanten Dialogen. Ein gutes Gespür fürs Timing nicht nur einzelner Szenen, sondern auch für die Gesamtdramaturgie hat auch „Der Zopf meiner Großmutter“. Bis zuletzt versteht es Bronsky, die Spannung zu halten. Wenn die Großmutter ihre Haare schließlich nicht mehr färbt und der Zopf alles andere als ordentlich geflochten wird, hält Alina Bronsky ihre Erzählfäden umso fester in der Hand.

Aus der Familiengeschichte entwickelt sich schließlich ein Coming-of-Age-Geschehen. Der Erzähler bricht in ein Leben auf, das die Verhältnisse im Flüchtlingsheim, die aggressive Heimatsehnsucht und den Kontrollwahn der Großmutter weit hinter sich lässt. So erzählt dieser lesenswerte Roman letzten Endes auch von der Kraft der Vergebung.

Carsten Otte

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false