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Jurjews KLASSIKER: Ein Sockel für alle

Seit gut fünf Jahren schreibe ich diese Klassikerkolumne, die mir – hoffentlich nicht mir allein! – viel Freude bereitet.

Seit gut fünf Jahren schreibe ich diese Klassikerkolumne, die mir – hoffentlich nicht mir allein! – viel Freude bereitet. Die 49 Autoren, denen ich bisher begegnet bin, waren sehr unterschiedlich, von Serge Gainsbourg mit seinem virtuosen Furzroman bis zum frommen Meister Eckhart. Ihre einzige Gemeinsamkeit: Sie waren alle tot, sogar der anonyme Autor des 500 Jahre alten Volksbuches über Fortunatus. Sonst wissen wir über ihn nichts – nur dass er eben tot ist. Wenn der Leser also etwas Unumstrittenes aus dieser Kolumne lernen will, ist es dies: Die Haupteigenschaft eines Klassikers ist, dass er nicht mehr ist. Deshalb möchte ich in dieser 50. Kolumne ausnahmsweise über Lebende sprechen. Es wird angenommen, die Beförderung in den Klassikerstand habe in unseren Zeiten, den Zeiten der Postmoderne und der gelungenen Dehierarchisierung der Kultur, aufgehört. Schade, denke ich mir, sehr schade!

In Sachen deutschsprachige Literatur bin ich ein Außenstehender, der von innen kommt – ein „außenstehender Innenverteidiger“, um das als eine Art Fußballparadoxon auszudrücken. Meinen „Innenbeobachtungen von außen“ zufolge steht diese Literatur derzeit in einer außergewöhnlichen Blüte, die, zumindest quantitativ, in der ganzen Literaturgeschichte ihresgleichen sucht. Vielleicht im Barock? Sie verfügt also über viele, sehr viele Autoren diverser Generationen, die ihrer sprachlichen Meisterschaft wegen nach ganz bestimmt in den Klassikerstatus erhoben werden könnten. Vielleicht ist das das Problem: die Quantität? Eine klassische Klassikerliteratur ist eine Pyramide, die vom breiten Fundament zur Spitze läuft. Wie viele Hunderte von Autoren könnten auf dieser Spitze Platz finden? „So viele Hunderte, wie der Herrgott will“, würde ein mittelalterlicher Scholastiker entgegnen.

Ich kann mir leider nicht vorstellen, dass Deutschlands Straßenkreuzungen mit gusseisernen Figuren zugestellt würden, die beispielsweise die von mir hochgeschätzten Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino und Peter Kurzeck zeigen. Beide schätze ich genauso wie sämtliche Storms und Fontanes dieser Welt. Oder dass deutsche Gymnasiasten die Rechtschreibung nach meinem lieben Freund und großen Dichter und Rechtschreiber Reinhard Jirgl pauken würden. Von den Lyrikern zu schweigen. Sie sind anscheinend so viele, dass man sie kaum bemerkt. Die Überflussgesellschaft, die wir auch sonst kennen. Wenn man etwas „Erhabenes“ braucht, geht man in den Supermarkt und nimmt sich einen Gregor Laschen oder einen Paulus Böhmer in den Einkaufswagen, eine Elke Erb oder eine Friederike Mayröcker.

Stopp, stopp! Ich schreibe den letzten Namen und spüre, dass ich mir nicht mehr so sicher bin, ob all das in Bezug auf Österreich stimmt. Wer beobachtet, wie Ernst Jandl derzeit in der Alpenrepublik kanonisiert wird, wie an seiner Verdenkmalung gearbeitet wird („hast du heute gejandlt“ heißt ein Schreibwettbewerb in österreichischen Schulen), beginnt zu vermuten, dass die Österreicher sich der Postmoderne verweigert haben. Also bekommen irgendwann sogar Kollegen jüngerer Semester wie die Prosa-Autoren Thomas Stangl und Richard Obermayer ihre Denkmäler im Park.

Und die Schweizer? Ich glaube, in der Schweiz wird das direktdemokratisch geregelt, auf kantonaler Ebene. Während die Österreicher diskret in den 1890er Jahren geblieben sind, aus dem gemeinsamen nationalen Gefühl heraus, dass es da einfach schöner war (die anderen brauchen das ja nicht unbedingt zu wissen), haben die Schweizer vermutlich abgestimmt. Und entschieden, dass die Eidgenossenschaft in der Spätmoderne bleibt.

Nur Deutschland, das brave Postmoderne-Land, macht keine Klassiker mehr?

Ich weiß nicht, ob es so ein großer Nachteil ist, zu wissen, dass du nie „der Beste“ sein wirst, sondern immer einer von vielen. Möglicherweise macht das das Dichterleben einfacher und das berufliche Miteinander herzlicher. Ich weiß es nicht – ich beobachte es nur, aus meiner seltsamen Position. Damit zurück zu dieser Kolumne. Nächstes Mal geht es um John Steinbecks „Russische Reise“ und die Unmöglichkeit, fremde Kulturen nicht falsch zu betrachten.

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