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Jurjews KLASSIKER: Gehen und bleiben Weißes Schloss mit weißen Nymphen

Linda Benedikt erzählt kurz vom Sterben.

Es mag zynisch klingen, festzustellen, dass Bücher über das Sterben in den vergangenen Jahren Konjunktur haben (gestorben wird schließlich immer). Eine ganze Generation von Autoren scheint das Bedürfnis zu haben, gegen die Anonymität des Todes anzuschreiben. Auch Linda Benedikt, Jahrgang 1972, die Politikwissenschaften studiert und als Journalistin gearbeitet hat, reiht sich nun mit einer Veröffentlichung ein, die so bemerkenswert wie mitreißend ist. Der Titel lügt nicht: Kaum mehr als 120 Seiten stark ist ihr Buch, doch das har es in sich: sieben Tage, sieben Kapitel, rückwärts erzählt. Am Ende steht der Tod.

Eine junge Frau kommt von London, wo sie lebt und arbeitet, in ein Münchner Krankenhaus. Dort liegt die Mutter, vom Krebs schon fast zerfressen. Die Tochter quartiert sich in ihrem Zimmer ein. Hilft bei den nötigen Gängen. Wäscht die Mutter, cremt sie ein. Geschont wird dabei niemand. Die Beschreibungen sind ungeschönt, beinahe brutal. Das muss so sein. Denn während auf dem Krankenhausfernseher, der einen Kontrapunkt zur Realität bildet, eine Folge der „Schwarzwaldklinik“ läuft, zeigt sich im Krankenzimmer darunter das wahre Leben. Und das wahre Sterben.

Zu Beginn glaubt die Tochter noch an einen höheren Sinn, an eine Ordnung, an den Gedanken, dass der Tod eine so konsequente wie notwendige Fortsetzung unserer Existenz ist. Am Ende aber stellt sie fest, dass der Tod unnütz ist und boshaft. Die Mutter ist noch nicht alt, gerade einmal Anfang 50. Sie war eine schöne, begehrte Frau. Erinnerungen kommen der Tochter in den Kopf, an gemeinsame Urlaube, an Männer, die Schlange standen.

Das Verhältnis der beiden ist ambivalent. Der große Abwesende ist der Vater, der nur als Telefonstimme vorkommt. Die Mutter/Tochter-Konkurrenz ist nun, in der aktuellen Situation, aufgelöst; die Abhängigkeiten haben sich verkehrt. Und trotzdem bleibt das Unbehagen an der Frau, die da siecht, subtil spürbar. Die Tochter macht mit ihrer Kamera Nahaufnahmen, von den fettigen Haaren, von den Narben, den Knoten, dem Urinbeutel – auch das ist eine Form der Konservierung. Trotzdem, bei aller Radikalität der Darstellung, lässt Linda Benedikt den beiden Frauen ihre Würde. Das ist das Große an diesem kleinen Buch. Christoph Schröder

Die Wege des kulturellen Gedächtnisses sind unergründlich. „Ungefähr 1979“, erinnert sich die große russische Lyrikerin Jelena Schwarz (1948–2010), „bekam ich Lust, Gedichte unter dem Namen eines Mannes zu schreiben. Ich gab ihm den Vornamen Arno, zu Ehren des deutschen Dichters Arno Holz, dessen Aufsatz über den poetischen Rhythmus mich einst stark beeindruckt hatte. Darin beschrieb er, wie jede Veränderung des Gefühls, Veränderung des Gedankens im Gedicht von einer Transformation des Rhythmus begleitet werden muss.“

Ein halb vergessener deutscher Dichter, 1863 in Ostpreußen geboren und 1929 in Berlin gestorben und auf dem Friedhof Heerstraße begraben, taucht in einer Verserzählung über eine chinesische Füchsin in Tallinn und Leningrad auf. Hätte Jelena Schwarz mit der „Revolution der Lyrik“ (1899) keine Bekanntschaft geschlossen, hätte sie ihren armen Poeten nicht Arno Zart genannt; und hätte sie davon nicht oft erzählt, wüsste ich wahrscheinlich nichts von diesem Dichter. Das ist ziemlich ungerecht.

Denn seine Gedichte sind noch immer gut, seine Essays auch für heutige Lyriker aufschlussreich, an seinen Theaterstücken, die ihn seinerzeit fast berühmt machten, könnte man studieren, wie aus dem deutschen Naturalismus, wenn er mehr als „konsequent“ betrieben wird (man erinnere sich an die Theorie des „konsequenten Naturalismus“, die Arno Holz mit seinem Freund Johannes Schlaf ausarbeitete und dabei die Gleichung Kunst = Natur - x aufstellte, wobei x der Autor ist), eine Art Impressionismus, gar Symbolismus entsteht, der zuweilen vorabsurde Züge trägt.

Interessant ist, dass auch Arno Holz selbst gelegentlich biografische Mystifikationsspielchen gespielt hat. Zusammen mit Johannes Schlaf schrieb er unter dem Namen Bjarne P. Holmsen „konsequent naturalistische“ Dramen, wie „Papa Hamlet“ (1889) und „Die Familie Selicke“ (1890). In ihnen unternahmen beide erste Schritte auf dem Weg zu einer experimentellen Kunst, die erst im 20. Jahrhundert zu blühen begann. Das Ergebnis gaben sie als Übersetzung aus – und verschafften dem „Autor“ eine fiktive Vita. Ich bezweifle, dass Jelena Schwarz in St. Petersburg davon wusste, ihr sind wohl nur Essays von Holz zufällig in die Hände gekommen, aber eine seltsame Verbindung mit ihrem Projekt, einen estnischen Lyriker namens Arno zu erfinden, besteht zweifellos.

Arno Holz war zu seiner Zeit berühmt (oder fast berühmt), er wurde sogar als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt, mit zahlreichen Ehrungen bedacht (etwa dem Schiller-Preis oder der Berufung in die Preußische Akademie der Künste). Die Trennung von seinem Freund und Koautor Johannes Schlaf, die mit einer schleichenden Entfremdung begann und am Ende in wahren Hass umschlug, wurde in öffentlichen Schriften ausgetragen. Doch was ist davon jenseits der Literaturwissenschaft, die in ihm einem frühen Evolutionstheoretiker sah, im Gedächtnis geblieben? Wer außer der Arno-Holz-Gesellschaft für deutsch-polnische Verständigung hält sein Andenken in Ehren?

Man lese also die Dramen in einer der vielen greifbaren Ausgaben oder im Netz – auf jeden Fall aber den 1898/99 erschienenen Gedichtband „Phantasus“, der den Leser geradewegs in ein untergegangenes Berlin führt – und weit darüber hinaus. „Horch!“, heißt es darin. „Der Ahorn vor meinem Fenster rauscht, / der Tau tropft, / und mein Herz / schlägt. // Nacht, Nacht, Nacht … // Durch die Friedrichstraße / – die Laternen brennen nur noch halb, / der trübe Wintermorgen dämmert schon – / bummle ich nach Hause. // In mir, langsam, steigt ein Bild auf. // Ein grüner Wiesenplan, / ein lachender Frühlingshimmel, / ein weißes Schloss mit weißen Nymphen. // Davor ein riesiger Kastanienbaum, / der seine roten Blütenkerzen / in einem stillen Wasser spiegelt! //Ich liege noch im Bett und habe eben Kaffee getrunken. / Das Feuer im Ofen knattert schon, / durchs Fenster, / das ganze Stübchen füllend, / Schneelicht. // Ich lese. // Huysmans. Là Bas. // … Alors, / en sa blanche splendeur, / l'âme du Moyen Age rayonna dans cette salle …“

Linda Benedikt: Eine kurze Geschichte vom Sterben.

Arche Verlag,

Hamburg/Zürich 2013. 126 Seiten, 16,95 €.

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